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Neunzehn Jagdfalken. Nabil ibn Tariq schloß seine Hand um die Lederschnur, die ihn mit seinem Lieblingsvogel Adla verband. Vor acht Stunden hatte er Saudi Arabien mit neunzehn Jagdfalken verlassen. Einer inneren Eingebung zur Folge hatte er Martin angewiesen, in Richtung Europa zu fliegen. In die Heimat seiner Mutter. Vielleicht gab es dort noch eine Zuflucht. Einen geschützten Bereich, wie er in den deutschen Märchen beschrieben wurde. Den Geschichten, die seine Mutter ihm immer erzählt hatte. Doch die grünen Wolken folgten ihnen, blitzend und dicht. Unheilverkündend. Im Moment waren sie schneller, aber niemand wusste wie lange noch. Oder was passieren würde, wenn sie Es nicht mehr wären. In der Nähe von Hannover hatten sie auf einem Heeresflugplatz tanken wollen. Verlassen hatte er ausgesehen, menschenleer. Doch das war ein Irrtum gewesen. 

Noch während Martin das Flugzeug mit Kerosin befüllt hatte, waren die Kinder aufgetaucht. Hatten ihn und sein Flugzeug umringt, ihn angestarrt, als ob er ihnen Rettung bringen würde. Einige Erwachsene folgten ihnen, zögernd und ängstlich. Wer konnte es ihnen verdenken? Es war ihm unverständlich gewesen, wie diese Menschen auf einen Militärflugplatz gekommen waren. Zwar waren nirgendwo Soldaten zu sehen gewesen, aber die Bereiche waren eigentlich abgesperrt. Nichtsdestotrotz standen sie vor ihm und legten ihre Hoffnung in seine Hände. Nabil hatte nicht lange gezögert. Achtzehn Jagdfalken stiegen auf und flogen weiter Richtung Norden. Schafften Platz, für eine wertvolle Fracht. Nabils Blick folgte ihnen, bis sie für das bloße Auge nicht mehr zu erkennen waren. Warum tat es nur so weh, diese Verbindung zu verlieren? Es waren nicht nur Falken. Es waren Freunde, Vertraute und Weggefährten. Jeder einzelne von ihnen. Doch es waren nun einmal keine Kinder. Nur Adla behielt er. Sie war die erste gewesen, die er ausgebildet hatte. Wie immer reagierte sie auf seine Unruhe und verlagerte ihr Gewicht auf seinen Arm. Es war für ihn selbstverständlich gewesen, die Türen seines Flugzeuges zu öffnen. Direkt nach dem Tanken waren sie wieder in die Luft gestiegen. Ein Prinz, zwei Piloten, zwei Stewardessen, ein Leibdiener und die neuen Passagiere. Neun Kinder zwischen drei und zehn. Eine Kindergärtnerin, die nicht gewusst hatte, wohin sie ihre Schützlinge bringen sollte. Eine Schwangere und ihre Mutter. Ein verschrecktes Paar. Ein Großvater. Ein Arzt. 

Sein Pilot flog eine Schleife, richtete die Nase der Boeing entweder nach Skandinavien oder Russland. Nabil wusste es selbst nicht genau, wo und ob überhaupt eine Lücke zwischen den Wolken zu finden war. Wahrscheinlich würden sie früher oder später das unheimliche Ding überfliegen müssen. Ihm graute jetzt schon vor diesem Moment. In einiger Entfernung leuchtete der Himmel grün, wie ein verschimmelter Schwamm. Vielleicht zogen sie sich auch einfach zurück. Hoffnung bestand immer, daran musste er sich einfach festhalten. Nabil zwang seine Aufmerksamkeit zurück ins Innere des Flugzeuges. Abgesehen von der Besatzung waren ihm nach dem Start alle gefolgt und hatten sich in der Lounge versammelt. Die kleineren Kinder saßen auf dem Teppich und hielten Kuscheltiere an sich gedrückt. Ein Mädchen weinte leise und ließ sich von der Kindergärtnerin trösten. Die Meisten guckten sich einfach nur um. Wie sein Privatjet wohl auf sie wirken musste? So viele Menschen hatte er jedenfalls noch nie mitgenommen, auch wenn der Flieger auf neunzehn Passagiere ausgelegt war. Seine Finger berührten den fragilen Anhänger, den er unter seinem Hemd an einer Kette trug. Dort hing das letzte Geschenk seiner Mutter, ein kleiner Falke, der seine Flügel ausbreitete um in die Lüfte zu steigen. Das Gold war mittlerweile ganz glatt. Auch nach sechs Jahren vermisste er sie noch genauso stark wie am Tag nach dem Autounfall. 

„Beißt der Vogel?" 

Vor ihm hatte sich ein Junge aufgebaut, der Adla neugierig musterte. Wieder verlagerte sie ihr Gewicht.

„Björn," rief der Großvater schockiert und erhob sich schwerfällig vom Sofa. „Es tut mir leid." Seine Rücken beugte sich als trüge er die Last der Welt. 

„Schon gut." Der Junge störte ihn nicht, tatsächlich begrüßte Nabil die Ablenkung. Sanft strich er über Adlas weiche Federn und schaute in die klaren grauen Augen seines Gegenübers. Sommersprossen waren über sein ganzes Gesicht verteilt und gaben dem Jungen ein schelmisches Auftreten. „Mich beißt sie nicht, aber sie ist etwas nervös." 

Reset - eine Göttermeer GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt