Die Neue

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Gwens Sicht


Wenn ich eines hasste, dann war es irgendwo die Neue zu sein. Die Neue wurde schnell verurteilt, schließlich lagen alle Augen auf ihr. Obwohl ich es grundsätzlich begrüßte, wenn ich das Zentrum der Aufmerksamkeit war, wollte ich in diesem speziellen Fall am liebsten in der grauen Masse der anderen Schüler untergehen.


Als ich am 1. September um halb elf morgens am Bahnhofs Kings Cross neben meinen Eltern stand, nahm zwar noch niemand um mich herum wahr, dass ich die Neue war, weil alle mit der Verabschiedung ihrer Familien und dem Begrüßen ihrer Freunde beschäftigt waren, aber allein der Gedanke daran reichte schon, um weiche Knie zu bekommen.


„Genieß' deine Zeit, Gwyneth", sagte meine Mutter gewohnt kühl und tätschelte unbeholfen meine Schulter. „Aber vergiss nicht, was du zutun hast."


Ich verzog hinter ihrem Rücken das Gesicht, aber lächelte sie dann unschuldig an. „Natürlich nicht, Mutter." Durch den Lärm des vorbeifahrenden Zuges schien ihr mein ironischer Tonfall nicht aufgefallen zu sein, denn sie nickte zufrieden. Mein Vater, der deutlich sentimentaler als meine Mutter war, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, ehe er mich in eine lange Umarmung zog.


Es war wahrscheinlich seine größte Stärke, dass er nach außen hin wie der verständnisvollste, einfühlsamste Vater wirkte, den man sich nur vorstellen konnte, obwohl er in Wirklichkeit ein kaltblütiger Todesser war. Ich liebte ihn, keine Frage, aber es ließ sich dennoch nicht leugnen, dass er skrupellos war. Bei meiner Mutter war diese Tatsache, mit ihren pechschwarzen Augen und ihrer stets steifen Körperhaltung, schon offensichtlicher.


„Ich kann es gar nicht glauben, dass wir jetzt bis Weihnachten von dir getrennt sein werden", schniefte Vater und umarmte mich noch ein weiteres Mal. Ich versuchte verzweifelt, mich aus seinem Griff zu befreien. Mutter stöhnte neben uns. „Jetzt mach' hier bloß keine Szene, Artus", zischte sie.


Er ließ in Sekundenschnelle von mir ab und räusperte sich peinlich berührt. Hecktisch sah er sich nach allen Seiten um, um zu überprüfen, ob uns jemand beobachtet hatte. Aber keiner der vorbeilaufenden Hexen und Zauberer hatte auch nur Notiz von uns genommen.


„Ich werde mich wohl erst einmal daran gewöhnen müssen, dass nun kein Kind mehr zuhause ist", seufzte er.

Mutter verengte ihre Augen zu Schlitzen. „Hör auf, ihn in der Öffentlichkeit zu erwähnen!"

Vater sah sie empört an. „Er ist unser Sohn!"

„Wir diskutieren das später aus", murmelte sie, obwohl man ihr ansah, dass sie am liebsten nie wieder darüber sprechen würde, und ihre Maske schien für einen kurzen Augenblick zu bröckeln.

Ich versuchte, den Stich in meinem Herzen zu ignorieren, den ich bei dem Gedanken an Matthew jedes Mal verspürte. „Denk dran", richtete Mutter das Wort noch einmal mit erhobenem Zeigefinger an mich.

„Erzähl niemandem, wer du bist und was du kannst", sagte ich ihre Rede auswendig auf, die ich allein in den letzten drei Tagen vor meiner Abreise schon mindestens fünfmal gehört hatte. „Du kannst niemandem vertrauen."

„Ganz genau."

„Man sieht sich dann." Ich presste die Lippen aufeinander und umklammerte meinen Koffer, um ihnen zu signalisieren, dass ich in den bereitstehenden Zug steigen wollte.

Zwischen Schwermut und LeichtsinnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt