Vier

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~Somebody to have~

"Komm Paige, setz dich." Chloe lässt sich auf dem Stuhl neben Kyle nieder und deutet auf den Platz neben sich.

Ich stelle meinen Rucksack unter den Tisch und setze mich hin. Während ich meine Sachen für den Unterricht hervorhole, spricht Kyle mich an: "Paige, wo kommst du her?"

Ich sehe zu ihm hinüber, doch kann ich dem Blick seiner stechenden, hellblauen Augen nicht standhalten, weshalb ich seinen dunkelbraunen Scheitel fokussiere. "Australien", erwidere ich.

"Syndney, Melbourne, Perth, Adelaide oder Brisbane?", fragt er mit schräg gelegtem Kopf.

"Ungefähr zehn Stunden mit dem Auto von Sydney."

"Du hast mitten im Nirgendwo gelebt?", möchte Chloe interessiert wissen.

"Nicht mitten, nur... ein bisschen", verteidige ich den kleinen Ort in dem ich in Australien gelebt habe.

"Gab es mehr Kängurus als Menschen?", fährt Chloe amüsiert fort.

Unbehaglich schaue ich im Klassenraum umher und kratze mich an meinem Hintekopf. Letztendlich sehe ich zurück zu meinen beiden Gesprächspartnern, bemerke, dass mich mittlerweile auch Jason aufmerksam ansieht, was mich nervös werden ließ, und antworte zögernd: "Vielleicht."

"Oh mein Gott! Hast du ein Känguru gestreichelt?", erkundigt Chloe sich euphorisch.

Ich wende mich kurz ab und lache leise. Zwei Augen brennen auf meiner Wange, weshalb ich nicht umhin komme, einen Blick zur Seite zu riskieren. Die kalten, dunkelgrünen Augen von Jason liegen auf mir. Ich kann keinen Ausdruck in ihnen erkennen.

Schnell drehe ich mich wieder von ihm weg und antworte Chloe mit einem einfachen Nicken.

"Oh mein Gott! Kyle, Kyle! Hast du das gehört?!" Mit weit aufgerissenen Augen schüttelt die Blondine aufgeregt Kyles Arm. "Sie hat ein Känguru gestreichelt!"

Kyle bricht in Gelächter aus, woraufhin er sich einen bösen Blick und einen Schlag gegen den Oberarm von Chloe einfängt.

Belustigt schaue ich zwischen den Beiden hin und her und verziehe meine Lippen zu einem breiten Grinsen. Ich sehe, dass Jason es mir gleich tut, doch sobald er bemerkt, dass ich ihn beobachte, vergeht ihm das Lächeln und er hält seinen Blick starr auf meinen beiden honigbraunen Augen.

Beschämt wende ich mich ab und sehe, dass gerade eine große, schlanke Fraue mit dunkelbraunen, hochgesteckten durch die Tür tritt.

"Guten Morgen meine Lieben, ich denke, dass ihr alle eure Sommerferien ganz Ms. Bennet und Mr. Darcy gewidmet habt, also können wir sofort mit dem Unterricht beginnen, doch vorher..." Meine Lehrerin lächelt mir zu und sieht mich aufmunternd an. "Möchtest du dich einmal vorstellen?"

"Ich heiße Paige, bin 16 Jahre alt und komme aus Australien", wiederhole ich das, was ich schon in der Stunde zuvor bereits meinen Mitschülern gesagt habe, während ich meinen Blick auf die Stuhllehne meines Vordermanns halte.

"Vielen Dank, Paige. Ich hoffe du wirst dich hier in Amerika wohlfühlen", erwidert die Dunkelhaarige. "Und nun zurück zu Jane Austen." Sie lässt ihren Blick durch den Klassenraum schweifen bis er an einer Person neben mir hängen bleibt. "Kyle, eine Zusammenfassung bitte."

"Möchten Sie das wirklich hören?", fragt er hoffnungsvoll.

Sie nickt.

"Also gut: Der Roman beschreibt etwas mehr als ein Jahr im Leben einer kleinen Zahl von jungen Leuten auf dem Land in der Nähe Londons  an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Im innersten Kreis dieser wohlhabenden bis reichen und teilweise adligen Familien steht die Familie Bennet mit ihren fünf Töchtern im Alter zwischen fünfzehn und Anfang zwanzig. Hauptthema ist die schließlich erfolgreiche Verheiratung dreier dieser jungen Frauen, die bei der Wahl ihrer Ehepartner jede für sich eine individuelle Balance von Liebe, ökonomischer Sicherheit und Standeszugehörigkeit finden. Dieser Start in ein selbständiges Leben wird durch viele Intrigen  und Missverständnisse, eben durch Stolz und Vorurteil, geprägt und verzögert", stottert Kyle mit dem Blick an die Decke gerichtet vor sich hin. Sobald er seinen Vortrag beendet hat, sieht er erwartungsvoll zu unerer Lehrerin nach vorne.

"Gut, aber ich habe eine Frage: War es das wirklich Wert den Wikipedia-Artikel auswändig zu lernen? Wäre es wirklich schlimmer gewesen, diese 226 Seiten zu lesen?", möchte sie amüsiert wissen.

"Ich hab's wirklich versucht; ich hab' die erste Seite gelesen, hab' nichts verstanden und hab' aufgegeben", versucht Kyle sich wild gestikulierend zu erklären.

"Oder du warst einfach damit beschäftigt, dich die ganze Zeit zu besaufen und die hübsche beste Freundin deiner Cousine zu vögeln", meint Chloe in Bühnenlautstärke mit ihrem Blick bewusst von Kyle abgewendet, bis sie ihn bei ihrem letzten Wort ansieht.

"Vielen Dank, Chloe", erwidert unsere Lehrerin. "Also, fahren wir fort.-", sie klatscht zweimal in die Hände, "-Alle Bücher raus."

Während des Unterrichts schreibe ich alles interessiert mit, melde mich an manchen Stellen und lasse Chloe bei den Aufgaben, die unsere Lehrerin uns gibt, von mir abschreiben.

Mit dem Klingeln springen alle Schüler auf, packen ihre Sachen zusammen und verlassen den Klassenraum. Auch Chloe gehört zu diesen Schülern. Sie zieht mich am Handgelenk mit sich und ruft: "Komm schon, Paige! Nur noch eine Stunde Chemie und dann haben wir Miiitagspaaauuuseee!" Das letzte Wort zieht sie unnötig in die Länge und hüpft entzückt vor mir aus dem Klassenraum.

"Keine Sorge, die ist immer so", höre ich Kyles Stimme hinter mir und spüre gleich darauf, wie er seinen Arm um meine Schulter legt. Unbehaglich sehe ich auf den Boden vor mir und bin nicht sicher, was ich tun sollte. "Jason, wir sehen uns in der Pause", nehme ich seine Stimme erneut wahr und sich mit irgendeinem kindischen Handschlag von seinem Freund verabschiedet.

"Sag mal Chloe, woher weißt du eigentlich, was ich in Deutschland gemacht habe?", fragt Kyle, während die Blondine sich an ihrem Schließfach zu schaffen macht.

Sie lacht kurz auf, bevor sie sich wieder in Bewegung setzt und ihm grinsend antwortet: "Nun ja, da du in Deutschland warst, war ich mir sowieso sicher, dass du nur Bier trinken und Weißwurst und Brezeln essen würdest. Und dann war irgendwann Adam bei mir und du hast mit ihm geschrieben und er hat gelacht und ich wollte wissen, worüber er lacht und dann hat er mir erzählt, dass du die Freundin deiner Cousine, diese Anna, vögelst und dass deine Cousine sich schon fragt hat, wie oft und lange ein einziger Mensch auf Klo gehen kann."

Augenverdrehend schüttelt Kyle bloß den Kopf und wendet sich an mich: "Denk nicht schlecht von mir. Ich bin nicht immer so, aber es war nun einmal eine gute Gelegenheit." Ich lächle und sehe zu ihm hoch.

Chloe klatscht in die Hände. "Entschuldigt mich, ihr Turteltauben, aber - Paige." Sie deutet auf mein Schließfach, vor dem sie mittlerweile steht. Elegant winde ich mich aus Kyles Arm, öffne meinen Spind, tausche meine Bücher aus und schlage die Tür wieder zu. "So, haben wir ein bisschen Spaß bei Chemie!" Sie hakt sich bei uns beiden ein und zieht uns mit sich. "Mit Silas." Sie sieht mich an und wackelt mit ihren Augenbrauen. "Warte mal, gerade war's doch noch Kyle." Sie schaut zu ihm. "Oder doch Silas." Sie schaut zu mir. "Wow, du bist gerade einmal ein paar Stunden hier und schon zwei Typen an der Angel. Nicht schlecht." Anerkennend nickt sie mir zu.

Someone You LovedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt