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Diese Nacht war unerträglich gewesen. Unruhig hatte er sich auf der Suche nach einigen kurzen Augenblicken der Ruhe und des Schlafes Stunde um Stunde hin und her gewälzt – doch vergeblich. Etwas in ihm ließ ihn einfach keine Ruhe finden, so sehr er sich auch danach sehnte. Gelang es ihm dann doch für eine kurze Zeit in einen schlafähnlichen Zustand zu verfallen, so verängstigten ihn seine Träume so sehr, dass er schweißgebadet und voller Unruhe wieder erwachte.

Er kannte dieses Verhalten seines Körpers und seines Geistes nur zu gut. Diese innere Unruhe, die vergebliche Mühe, ein wenig Ruhe und Schlaf zu finden, diese undefinierte Angst – dies alles hatte er in seinem noch recht jungen Leben genau zwei Mal erlebt und konnte sich auch jetzt noch an jede kleinste Einzelheit erinnern...sowie an das, was jeweils zuverlässig am darauffolgenden Morgen geschehen war. Die jeweilige Nacht hatte den Vorboten für einschneidende Veränderungen in seinem Leben dargestellt. Veränderungen, die ihm unerklärlich waren. Veränderungen, die er nicht hatte kommen sehen. Veränderungen, die ihn prägten, ihn zu demjenigen machten, der er heute war. Sie veränderten sein Leben drastisch, ohne jede Erklärung, ohne jedes Verständnis.

Als er gerade erst neun Jahre auf dieser Erde gewesen war, war es zum ersten Mal geschehen. Obwohl er sich an jede Einzelheit dieser Nacht und des darauffolgenden Morgens so deutlich erinnern konnte, als sähe er in einen kristallklaren Bergsee, verschloss er seither seine Gedanken und Gefühle konsequent davor. Zu schmerzlich waren noch heute die Erinnerungen an jenen Moment in seinem Leben, in dem er erkennen musste, dass ihn seine Eltern über Nacht verlassen hatten. Sie hatten ihn in ihrer einsam gelegenen Hütte am Waldrand zurückgelassen – ohne Ankündigung, ohne Erklärung. Als ihm dies bewusst geworden war, zerbrach die Welt des damals Neunjährigen.

Nur wenige Jahre später – es war an seinem 13. Geburtstag – war es wieder geschehen. Lange hatte er sich an die Einsamkeit und den unerklärbaren Verlust seiner Eltern gewöhnen müssen und doch – vergessen hatte er es nie können. Niedergeschlagen und allein hatte er seinen damaligen Geburtstag verbracht und war, wie so oft, die längste Zeit des Tages durch den Wald gestreift. In ihm, den er schon lange in- und auswendig kannte, fühlte er sich zu Hause und hatte ein ums andere Mal gespürt, wie ihn in der grünen Einsamkeit die bleierne Traurigkeit für eine kurze Zeit verlassen hatte. An jenem Tag schien es ihm, als könne er für kurze Augenblicke all seine Sorgen, seine Ängste und auch seine andauernde, nicht enden wollende Grübelei vergessen und vollkommen unbeschwert durch das dunkle Dickicht des großen, alten Waldes streifen.

Als er sich dann abends erschöpft und ein kleines bisschen weniger traurig als die vielen Tage zuvor schlafen gelegt hatte, hatte er noch ganz bei sich gedacht, dass nun vielleicht doch alles wieder ein bisschen besser werden könne. Allerdings war ihm schon kurze Zeit später klar geworden, dass dies ein vollkommen vermessener Gedanke gewesen war. Er hatte sich zum wiederholten Male, seit er verlassen wurde, gefragt, warum gerade er weder fröhlich noch glücklich sein durfte. Diese Nacht, die nach seinem 13. Geburtstag, hatte ihm die schlimmsten Albträume gebracht und ihn in nicht enden wollende Abgründe stürzen lassen. Voller Panik war er wieder und wieder erwacht und konnte seinen Albträumen doch nicht entfliehen.

Als in jener Zeit der neue Morgen mit zögerlichem Schein angebrochen war, war der frischgebackene 13-Jährige durch ein lautes Geräusch schlagartig in das Reich der spürbaren Existenz zurückgerissen worden. Nachgerade panisch war er aufgefahren. Heftig atmend hatte er kerzengerade in seinem Bett gesessen und mehrere Augenblicke benötigt, um zu realisieren, dass er den furchtbaren Träumen endgültig entkommen war. Er war wach gewesen und in Sicherheit. Hektisch hatte er seine Schuhe über die nackten Füße gezogen und war durch die windschiefe Tür der kleinen Hütte nach draußen gestürmt. Dort hatte er wiederholt mit geschlossenen Augen tief eingeatmet und seine Lunge mit der eisigen, klaren Luft des noch jungen Morgens gefüllt. Nur langsam war es ihm dadurch gelungen, die Schrecken der vergangenen Nacht zu verdrängen und mehr und mehr in die Wirklichkeit zurückzukehren.

„Ach du meine Güte! Wie konnte das nur passieren? Wo war ich nur mit meinen Gedanken? ‚Du wirst Zeit deines Lebens nicht gut sehen, also musst du besonders aufpassen, wohin du deine Füße setzt', sagte mein Großvater selig immer und immer wieder zu mir. Wieso bin ich dann noch heute ein solcher Tollpatsch? Immer muss etwas zu Bruch gehen! Und warum gerade hier? Er ist doch immer so gut zu uns, stellt uns Futter und Wasser hin, wenn der Winter wieder einmal so hart ist, dass nur ein wahrer Glückspilz etwas zu fressen finden kann. Ojemine, ojemine, was mache ich jetzt bloß?"

Stocksteif hatte der junge Knabe im Licht der aufgehenden Sonne vor seiner Hütte gestanden. Zunächst hatte er gezweifelt, es auf die kräftezehrenden Albträume geschoben, doch lange hatte dies nicht vorgehalten. Er war sich trotz der furchtbaren Nacht sicher gewesen, dass diese Stimme keine Einbildung gewesen sein konnte. Sie war dagewesen. Klar und deutlich war dieser nicht enden wollende und sich ein ums andere Mal die Schuld gebende Redeschwall an sein Ohr gedrungen – doch hatte er niemanden gesehen, der die Ursache dafür gewesen sein konnte!

Unsicher und gegen die aufsteigende Panik ankämpfend, hatte er sich umgesehen. Er hatte den Ursprung dieser Worte dennoch nicht finden können. Er war allein gewesen. Kein weiterer Mensch war zu sehen gewesen. Einzig ein Maulwurf hatte sich mit ihm die Ruhe der frühen Morgenstunden geteilt. Dieser hatte nur wenige Schritte entfernt gesessen und mit seinen kurzen Armen unablässig über einigen Scherben herumgefuchtelt, die in einem früheren Leben einmal eine große Schüssel gewesen waren.

Es hatte einige Momente gedauert, bis dieses untypische Verhalten etwas in dem verängstigten Jungen ausgelöst und seine Angst schlagartig in die Höhe schnellen gelassen hatte. „N-n-nein, d-das k-kann nicht sein! Ooooh nein! Niemals! J-jetzt i-ist es s-soweit! I-ich v-v-verliere den V-verstand! D-dieser M-m-maulwurf k-kann nicht r-reden! Ooooh nein! T-t-tiere k-können nicht r-r-reden! N-n-niemals!", hatte er zitternd gestottert, während er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als dass dies nur ein weiterer Albtraum sei, aus welchem er bald aufwachen würde.

Doch war ihm zeitgleich bewusst gewesen, dass dies nicht zutreffen könne. Er war wach gewesen, hatte vor seiner Hütte gestanden und einen Maulwurf reden gehört – wirklich und wahrhaftig reden gehört! Alles in ihm hatte weggewollt. Nach einer solchen Nacht war dies nun zu viel für ihn gewesen. Wie hatte dies sein können? Dafür hatte es keine Erklärung gegeben und doch: der Maulwurf hatte unablässig gesprochen und er selbst hatte zitternd und stocksteif dagestanden, unfähig, einen Muskel zu bewegen oder auch nur einen weiteren Laut von sich zu geben.

Unverwandt hatte er auf das kleine Lebewesen gestarrt, welches sich plötzlich in seinem Redeschwall unterbrochen und mit erhobenen Armen verharrt hatte. Die Zeit hatte für einen Augenblick stillgestanden. Nach einem Moment, der ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen war, hatte sich der pelzige Wühler mit aller gebotenen Vorsicht und äußerst langsam um die eigene Achse gedreht, bis er mit weit aufgerissenen Augen den vollkommen verängstigten 13-Jährigen angesehen hatte. „Nein, das kann nicht sein!", hatte er ehrfürchtig geflüstert, „Er soll es sein? Dieser kleine Bursche? ... Wer hätte dies auch nur erahnen können??"

Bedächtig und sehr besonnen hatte sich der Maulwurf in Bewegung gesetzt. Pfote um Pfote hatte er sich dem zitternden Kind genähert und seine Stimme leise, beschützend und doch voller Sorge ein weiteres Mal erhoben: „Sei unbesorgt. Du musst dich nicht fürchten. Ich werde für dich da sein. Ab jetzt bist du nicht mehr allein. Niemals mehr! Das verspreche ich dir!"

Diese Worte waren für den kleinen Jungen endgültig zu viel gewesen. All die Jahre des Alleinseins, der ungeklärten Fragen, diese zweite Nacht voller Albträume und dann auch noch ein Maulwurf, der geredet und ihm versprochen hatte, dass er von diesem Tag an niemals wieder allein sein müsste...er war am Ende seiner Kräfte gewesen! Schluchzend war er vor seiner Hütte zusammengebrochen, während sich der Sonnenaufgang seinem Ende zugeneigt und das junge Gras vor dem Wald und vor seiner Behausung in gleißend helles Licht gehüllt hatte.

Schicksalssmaragd (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt