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Die sich überschlagenden Emotionen des verstörten Grünlings durchströmten Eric ein weiteres Mal und durchdrangen jede Faser seines Selbsts. Wie vom Blitz getroffen und jeder Fähigkeit zu handeln oder auch nur zu sprechen vollkommen beraubt, saß er apathisch vor sich schauend da. Der Frosch auf seinem Haupt, dessen Gefühle in seinem Inneren – dies war das einzige, was er noch wahrnahm, was er noch wahrnehmen konnte. Er spürte den unendlichen Schmerz, die alles verschlingende Angst. Er fühlte die tiefe Hoffnungslosigkeit, den verzweifelten Wunsch nach Hilfe und Schutz, nach Wärme und Geborgenheit, nach Aufmunterung und Ruhe. All diese ungebändigten Empfindungen tosten in Erics Innerem. Er fühlte sie so klar, so vereinnahmend als wären sie seine eigenen, als wüsste er selbst nicht mehr aus noch ein. Sie waren so stark, so zerstörend und drängten ihn immer näher an den Rand eines endlos tiefen und dunklen Abgrundes, der sich im Inneren des Hüpfers aufgetan hatte. Eric konnte sich nicht länger dagegen wehren. Er hatte keine Chance. Er würde dem Sog der fremden Emotionen nicht mehr entkommen können.

„Eric? Eric?! Du meine Güte! Samuel, was geschieht mit ihm? Eric? Eric, wieso hörst du mich nicht? Was ist mit dir? Samuel, so tu doch etwas! Gulliver? Gulliver! Was ist mit ihm? Was geht hier vor sich? Was passiert mit Eric? Samuel! Gulliver! Ihr müsst etwas unternehmen! Bitte! Wir müssen doch etwas machen können! Eric? Eric?!" Der kleinen Marie fiel als erste auf, dass mit Eric etwas nicht stimmte. Binnen Sekunden schien sich alles an ihm geändert zu haben. Jede Kraft schien aus ihm gewichen zu sein, alles Leben. Es ging etwas Unerklärbares, etwas Beängstigendes, ja, vielleicht sogar etwas Gefährliches vor sich und es sah ganz danach aus, als könne sich Eric nicht dagegen wehren. Das Kaninchen musste nicht überlegen. Es wusste sofort: er brauchte dringend ihrer aller Hilfe.

Hektisch hoppelte Marie über Erics Bett. Mehrmals sprang sie auf seine Beine, stellte ihre Vorderpfoten an seiner Brust ab und stupste ihn, in der Hoffnung auf irgendeine Reaktion, auf irgendein Zeichen seinerseits, immer wieder mit ihrem rosa Näschen an. Samuel, Gulliver, wie auch alle anderen Tiere hatten sich nach Maries verzweifelten Rufen zu ihr umgewandt und blickten jetzt ratlos und mit wachsender Sorge auf das rätselhafte Geschehen, das sich ihnen darbot. Sie verstanden nicht, was geschah. Doch merkten auch sie, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Der Maulwurf und der Hirsch sahen sich hilflos an. Was geschah mit Eric? Was konnten sie tun? Wie konnten sie ihm nur helfen?

All die Sorgen, all die Machtlosigkeit der Tiere blieben Eric verborgen. Er war ein Gefangener der fremden Gefühle und gänzlich von der Außenwelt abgeschnitten. Gnadenlos wurde er an die Kante des pechschwarzen Abgrundes gedrängt, welcher eine Endgültigkeit ausstrahlte, die zunehmend präsenter und unnachgiebiger wurde, die es einem schier unmöglich machte, sich ihr zu widersetzen. Erics Schicksal schien besiegelt.

Plötzlich regte sich in ihm jedoch ein winziger Funken seines ureigensten Selbsts. Tief in seinem Innersten begann dieser gegen die Übermacht der fremden, alles vernichtenden Gefühle anzukämpfen. Sein Unterbewusstes war noch nicht dazu bereit, aufzugeben. Es wollte kämpfen und glaubte daran, siegen zu können. Schlagartig beschleunigte sich Erics Herzschlag. Sein Widerwillen und seine Angst vor dem alles verschlingenden Abgrund traten ihm mit einem Mal ganz klar in sein Bewusstsein, welches die Fesseln der fremden Gefühle abgelegt hatte und damit begann, zu seiner alten Größe zurückzufinden. Er wollte nicht dorthin! Er wollte nicht an den Rand dieses Abgrundes! Er wollte nicht abstürzen! Das waren nicht seine Gefühle! Das war nicht sein Weg!

Mit einem Schlag hatte es Erics Bewusstsein geschafft: er war wieder Herr seiner Sinne, Herr seines Selbsts. Noch im selben Moment war er sich darüber im Klaren, dass alles, was er gerade empfand, was ihn zu verschlingen drohte, nicht seine eigenen Gefühle, sondern die des kleinen Frosches waren, den er jetzt auch wieder auf seinem Kopf sitzen spürte. Erics innere Kraft erstarkte von Sekunde zu Sekunde. Er konzentrierte sich nun vollkommen darauf, diesem beängstigenden und verwirrenden Ereignis die Stirn zu bieten, ihm zu entkommen. Mit all seiner Kraft kämpfte er gegen die fremden Empfindungen an und rang sie bald fast vollkommen nieder.

„Schaut nur! So schaut doch nur! Eric! Du meine Güte! Eric!", vernahmen die Tiere plötzlich Maries verwunderte Stimme, die fast nur noch ein Flüstern war. Mit großen Augen und voller Staunen blickten alle Tiere, ausnahmslos alle, auf die wundersame Szenerie vor ihnen. Schweigend sahen sie zu Eric, der sich mit zunehmend klarem Blick seiner Umgebung wieder bewusst wurde und erkannte, dass er gesiegt hatte. Es war alles wie zuvor. Er hatte die Emotionen des Frosches in ihre Schranken weißen können und war nun abermals ganz er selbst. Als er dies erfasst hatte und sich dessen auch absolut sicher war, atmete er tief und erleichtert durch.

Ratlos sah er seine Mitbewohner an. Was war gerade mit ihm geschehen? Wie war so etwas möglich? Er konnte es sich nicht erklären, beim besten Willen nicht. Es gab keine verständliche oder gar logische Erklärung für das, was da gerade mit ihm und dem unbekannten Frosch geschehen war. Bei diesem Gedanken wurde sich der erschöpfte und verwirrte junge Mann wieder des zitternden, kleinen Hüpfers auf seinem Kopf bewusst und wusste mit einem Mal, was zwangsläufig der nächste Schritt sein musste. Eine Antwort auf das gerade Vergangene würde er wohl nicht erhalten, doch war es nun unumgänglich, ein wenig mehr über den von ihm Geretteten zu erfahren.

Vorsichtig streckte Eric daher die Hände in Richtung seines Kopfes und griff sanft nach dem kleinen Grünling, der dort nach wie vor vollkommen erstarrt und zugleich unkontrolliert bebend saß. Zu seinen tierischen Mitbewohnern gewandt, bat er ruhig: „Bitte seid so lieb und geht für einen Moment nach draußen. Wir haben unseren völlig aufgelösten und entkräfteten Gast wohl ziemlich überfordert. Ich werde zunächst einmal unter vier Augen mit ihm sprechen. Vielleicht fasst er ja dann doch noch Vertrauen zu uns. Das wäre doch schön, oder?" Hoffnungsvoll blicke Eric auf seine geschlossenen Hände, in denen sich der Frosch voller Angst verbarg. „Seid bitte so lieb. Ich hole euch auch so bald als möglich wieder herein. Versprochen", schloss Eric beinahe flüsternd.

Zweifelnd und nach wie vor voller Sorge sahen ihn die Tiere an. „Bist du dir sicher, dass wir gehen sollen? Geht es dir auch wirklich wieder gut? Vollkommen gut?", fragte Gulliver besorgt. „Ja, mit mir ist alles wieder in Ordnung. Das versichere ich euch...aber falls es euch beruhigt, kannst du gerne bleiben, Gulliver. Ich denke, das wäre gar nicht so schlecht...vielleicht hilft es ja auch unserem Neuzuwachs", wandte sich Eric an den Fragenden und sah die Anderen danach lächelnd an: „Bitte, meine Lieben, seid so nett. Ich weiß, es geschah ohne jeden bösen Willen, aber wir haben unseren kleinen Gast vollkommen überfordert. Er muss sich jetzt erst einmal dringend beruhigen; die letzten Stunden haben ihn traumatisiert. Er benötigt viel Raum und Ruhe. Wir dürfen ihn nicht noch einmal so in die Enge treiben. Das versteht ihr doch, oder?" Zögernd nickten die Angesprochenen. Sie wären zwar alle gern geblieben – noch nie hatte Eric ihnen einen solchen Schrecken wie noch vor ein paar Minuten eingejagt –, folgten aber seinem Wunsch, da sie die Anwesenheit Gullivers in der Hütte dann doch ein wenig beruhigte.

Schicksalssmaragd (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt