1. Mister Mallory und der Typ mit dem Liebeskummer

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Ich warf noch einen letzten Blick in den Spiegel. Das Make-Up ließ mich erwachsen wirken, die eleganten High-Heels machten mich um einiges größer, das schwarze Cocktailkleid schmeichelte meiner Figur und die Frisur saß perfekt. Ich lächelte, der Lippenstift glänzte im schwachen Licht der antiken Stehlampe und auch die Perücke warf ein paar glitzernde Lichtreflexe zurück.

Ich drehte mich um und verließ das Hotelzimmer mit den edlen, alten Möbeln und der Unordnung, die ich dort hinterlassen hatte. Aber mir fehlte die Zeit und Lust, die ganzen Tuben, Fläschchen und Dosen aus dem Badezimmer wieder einzuräumen, die paar Klamotten auf dem Bett zusammenzulegen und die Handtücher sowie den Kleinkram auf meinem Nachttisch ordentlich zu verstauen. Ich würde es später machen.

Fast direkt gegenüber von der Zimmertür befand sich der Fahrstuhl, und als ich ihn betrat, stand dort schon ein älterer Mann drin. Ich lächelte ihm kurz zu. Er trug einen Anzug, der sehr teuer aussah, hatte eine etwas gebückte Haltung und sonderte einen seltsamen Geruch ab, vermutlich eine Mischung aus Kaffee, Aftershave und irgendwas Alkoholischem. Als die Tür sich endlich im Erdgeschoss öffnete, atmete ich erleichtert durch und durchquerte schnell das Foyer, meine Absätze klickerten laut auf den hellen Fliesen. Als ich durch die Glastür getreten war, schaute ich unauffällig auf meine silberne Armbanduhr. Kurz nach acht.

Nur wenige Minuten später war ich an der Bar angekommen. Edle Stühle mit roten Lederbezügen standen an ebenso edlen Tischen, um den langen Thekenbereich standen viele große Barhocker. Durch die Besucher hindurch schlängelte ich mir meinen Weg dorthin, wo trotz der relativ frühen Uhrzeit schon genug junge Leute angetrunken und heftig am flirten waren. Ich ließ meinen Blick an ihnen entlangwandern, fand aber nichts, was meine Aufmerksamkeit erregte und stellte mich einfach dazu. Bei einer jungen, nur leicht bekleideten Frau hinter dem Tresen bestellte ich mir einen Cocktail, dessen Namen ich schon wieder vergessen hatte, als ich ihn in der Hand hielt. Er schmeckte ekelhaft süß.

Nach kurzer Zeit spürte ich eine Berührung an meinem Arm. Ein Typ hatte sich neben mich gestellt und war mir dabei ziemlich nahe gekommen, ihn schien das keineswegs zu stören.

„Kommst du öfter hierher?"

„Nein, eigentlich nicht. Bin auf der Durchreise."

Das war gelogen. Ich wurde hier geboren und habe mein gesamtes Leben hier verbracht, ausgenommen die Sommerurlaube, die meine Eltern mit mir und meinem großen Bruder gemacht haben, als wir kleiner waren. Aber das musste er ja nicht wissen, die Erinnerung daran war eh nicht besonders gut. Außer das Jahr, in dem wir Ski fahren wollten. Letztendlich war ich dabei eine ganze Woche verschwunden, weil ich auf der Suche nach einem Yeti eine Bergsteigerhütte gefunden hatte, die wohl ab und zu auch noch benutzt wurde. Dort habe ich also meinen Urlaub in Wolldecken eingekuschelt verbracht, die vorhandenen Bücher gelesen und natürlich die Vorräte geplündert. Wieso hatten die dort eigentlich Unmengen an Schokolade, aber keine einzige Tüte Gummibärchen?

„Ach so. Bist du geschäftlich in der Stadt?"

„Gewissermaßen."

Yay, endlich mal eine ehrliche Antwort. Immerhin arbeitete ich hier mehr oder weniger. Ob man meinen Job Arbeit nennen konnte? Müsste ich vielleicht mal googeln.

„Du bist nicht besonders gesprächig, oder?"

Das hatte er aber schnell gemerkt. Dann erinnete ich mich, dass das ja eigentlich nicht Sinn der Sache war, und laberte drauf los.

„Na ja, ich bin nicht so ganz in der Stimmung. Meine Großmutter ist vor ein paar Tagen gestorben und heute war ihre Beerdigung... das ist auch der Grund, wieso ich hier bin. Ich dachte, ein bisschen Ablenkung würde mir gut tun. Wissen sie, sie lag mir sehr am Herzen."

Das war wahrscheinlich die größte Scheiße, die ich je von mir gegeben habe. Abgesehen davon, dass ich meine Großmutter nie kennengelernt habe und keine Ahnung habe, ob sie noch lebt oder nicht, war ich auch nicht hier, um Zerstreuung zu finden. Trotzdem nickte ich, als er sagte: „Ach so, sag das doch gleich. Ich weiß, was du brauchst. Einfach mal an etwas anderes denken und vergessen."

Daraufhin bestellte er uns einen Drink, mit dem er aufs Vergessen anstoßen wollte, und in der nächsten Stunde wurde ich Zeuge seines größten Talents; Reden ohne Punkt und Komma. Eigentlich war das gar nicht so schlecht, denn dann musste ich mir wenigstens keine Lügen ausdenken, sondern nur zuhören wie er von seiner Ex-Freundin erzählte, über die er offensichtlich noch nicht hinweg war. Mit der Zeit verstand ich auch, warum er so euphorisch auf das Vergessen angestoßen hatte, denn er brauchte es ganz dringend.

Als mein neuer Freund mir gerade erzählte, dass er ihre gemeinsamen Kinder Grace und Casper nennen wollte, entschuldigte ich mich kurz und ging in Richtung Damentoilette. Ich schloss die Kabinentür hinter mir, lehnte mich kurz gegen sie und atmete tief durch. Meine Schuhe zog ich aus und ließ sie auf dem Fliesenboden stehen, aus meiner Handtasche holte ich ein paar dunkle, dünne Lederhandschuhe, die ich mit Vorliebe bei solchen Aktionen trug. Dann kletterte ich auf den Klodeckel, zog mir zwei überflüssige Haarnadeln aus der Frisur und machte mich an dem Schloss des kleinen, schmalen Fensters zu schaffen. Schnell hatte ich es offen und zwängte mich hindurch. Dann stand ich auf dem Hinterhof, alleine mit den Müllcontainern. Es war wie eine andere Welt, wie durch Watte hörte man noch die Musik aus der Bar und das Rauschen der Autos von der Straße. Der Zaun war so hoch, dass man nicht das übliche Licht der Großstadt sehen konnte, und da der Himmel ebenfalls wolkenverhangen war, dienten die kleinen Riffelglasfenster der Toilettenräume als einzige Lichtquelle. Sie reichten aus, dass ich die Hintertür des gegenüberliegenden Gebäudes erkennen konnte, aber ich brauchte doch die Minitaschenlampe von meinem Schlüsselbund, den ich aus der kleinen Handtasche kramte, um auch dieses Schloss zu knacken. Es ging schneller als gedacht, und eine Alarmanlage hatte ich auch nicht zu befürchten, da damit nur die Fenster und Türen auf der Vorderseite versehen waren. Leise schlich ich mich durch ein paar Büros, bis ich schließlich in dem von Mister Mallory angekommen war. Es war im Vergleich zu manchen der anderen einigermaßen aufgeräumt, was mir die Suche etwas erleichterte. Erst durchstöberte ich vorsichtig die Schubladen, darauf bedacht, alles genau so zu hinterlassen wie ich es vorgefunden habe. Nachdem ich auch in den Heftern auf der hellgrauen Ablage nichts gefunden hatte, hob ich die Schreibtischunterlage hoch. Und siehe da, es lag vor mir. Ich hatte es gefunden, das vergilbte Schwarz-Weiß-Foto mit einer großen, streng dreinblickenden Familie drauf. In der vordersten Reihe sah ich mehrere junge Mädchen. Ob eines von ihnen meine Auftraggeberin war?

Zügig machte ich mich wieder auf den Weg zurück, und als ich in die Klokabine zurückgeklettert war, zeugte nichts von dem kleinen Ausflug. Fingerabdrücke gab es dank der Handschuhe nicht, und dank der besonders robusten Nylonstrumpfhose, die ich unter dem Kleid trug, dürften auch sonst keine Spuren entstanden sein. Das Foto hatte ich in die große Geldbörse gelegt, die ich extra zu diesem Zweck gekauft habe, sodass es nicht weiter auffiel. Meine Handschuhe landeten wieder in meiner Handtasche und die Haarklammern, die ich vorrübergehend am Ausschnitt meines Kleides befestigt hatte, in der Perücke. Da ich keine zehn Minuten weg war, hätte mir der Typ mit dem Liebeskummer, der wohl immer noch an der Bar auf mich wartete, ein Alibi gegeben, wäre der Einbruch bemerkt worden. Ich zog mir die High-Heels wieder an und spülte, dann verließ ich die Kabine und wusch mir blitzschnell die Hände. Als wäre ich nie dagewesen.

„Sorry, hat etwas länger gedauert" machte ich auf mich aufmerksam, als ich wieder an der Theke stand.

„Macht doch nichts, ihr Frauen braucht doch eh immer ewig." meinte er nur, aber bevor ich mich darüber aufregen konnte, winkte er nach dem Barkeeper, besorgte uns zwei kleine Gläser mit einer klaren Flüssigkeit, hielt seines hoch und rief: „Auf die Frauen." Ich tat es ihm nach, und es schien ihn glücklich zu machen, denn als unsere Gläser leise gegeneinander klirrten lächelte er breit. Ich stürzte das Zeug schnell herunter, spürte es im Hals brennen und hatte einen sauren Nachgeschmack im Mund. Eigentlich trinke ich nie Alkohol, ich mag es nicht, keine Kontrolle über mich zu haben. Und in manchen Situationen, wenn man zum Beispiel Ärger mit der Polizei hat, ist es ganz nützlich, bei klarem Kopf zu sein. Also beschließe ich, für diesen Abend erst mal Schluss zu machen, und nach weiteren fünfzehn Minuten Gelaber von dem Typen, dessen Namen ich immer noch nicht erfahren habe, verabschiede ich mich. Es ist doch schon kurz nach Mitternacht, und da ich in der letzten Nacht fast gar nicht geschlafen habe, da ich in Mister Mallory's Wohnung auf der Suche nach dem Foto war, fiel ich in meinem Hotelzimmer sofort in einen tiefen Schlaf.     

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