1.
„Flamare", flüsterte Keir, als sie sich der Höhlenöffnung näherte.
Noch im selben Augenblick schossen kleine rötliche Flammen auf ihrer Handfläche hervor und wärmten die Luft um sie herum, ohne jedoch ihre Schöpferin zu verbrennen.
Leisen Schrittes betrat sie das Steinerne Grab und sah, wie ein pechschwarzer Gang ihr Sichtfeld einnahm. Doch trotz der wabernden Lichtquelle in ihrer Hand, konnte sie nicht mehr als zwei Schritte weit in die Dunkelheit blicken.
Draußen in der Helligkeit der Mittagssonne war es für Keir ein leichtes gewesen, den für einen Enthüllungszauber offensichtlichen Finten zu entgehen, doch hier, in einem enger werdenden Raum, der wenig Platz für ausschweifende Ausweichmanöver bot, musste sie etwas vorsichtiger sein.
„Romunare", sprach sie zur Flamme und brachte diese damit unversehens dazu, ihre Hand zu verlassen und sich in Form von kleinen Feuerbällen in gleichmäßigen Abständen an der Decke niederzulassen.
Hell erleuchtet brauchte es nicht mehr viel, die Umgebung um sie herum genauer zu erkunden, ohne auch hier in irgendwelche Fallen oder Schutzmechanismen zu treten.
Während Keir tiefer in die Höhle eindrang und die Feuerkugeln bedächtig vor sich hin knisterten, fiel ihr Blick auf die verkommenen und von der Zeit in Mitleidenschaft gezogenen Wandzeichnungen, die sich entlang des Ganges ausbreiteten.
Fasziniert lies sie ihre Hand nur einen Hauch entfernt über den kalten Stein entlang wandern, ohne die Absicht diesen wirklich ihre Haut berühren zu lassen.
Die Zeichnungen stellten, wie sie wusste, die Geschichte dieser Höhle und ihrer Bewohner dar, sowie dessen unbezahlbaren Schatz, den sie noch immer hütete.
Beinahe war es schade, dachte sie seufzend, das all diese Bilder bald unerfüllbare Hoffnungen in jene setzten würden, die nach ihr diese Gänge betraten.
Und wieder einmal konnte Keir spüren, wie sich der aufkommende Nervenkitzel in ihrem Innern breit machte, als sie daran dachte, wie sie selbst alle Gefahren beiseite räumen und sich alles, was sich in dieser Höhle an Wert finden lies unter den Nagel reissen würde.
Ihre angeborene Besitzgier brodelte und jauchzte als sie sich die Gesichter ihres Zirkels vorstellte, die in Anbetracht ihres neuen Reichtums ihren Neid verstecken und in ihren Zimmern wiederholt nach Übertragungszaubern suchen würden.
Auch wenn dieses Vorgehen unmöglich war; da kein Zauber dazu in der Lage war einen Schatz, der sich einmal in dem Besitz einer Hexe befunden hatte, auf eine andere zu übertragen. Dafür hatte Hekate, die sich der Habgier und der Kleptomanie ihrer Schützlinge nur allzu schnell bewusst wurde, gesorgt, um den Frieden innerhalb des Covens zu erhalten.
Nur andere Spezies, die nicht unter dem Schutz Hekates standen, waren dazu im Stande, sich durch Gewalt oder Zwang hexerischen Eigentums zu bemächtigen. So wurden diese allerdings durch Banne oder Flüche davon abgehalten dies ernsthaft zu versuchen.
Ja, dachte Keir verdrießlich, manchmal war es schon wirklich langweilig dem Hexen Coven anzugehören.
Mächtige Zauber und grausame Flüche, die nicht nur den Hexen zur Verteidigung halfen, sondern im Austausch enormer Gegenleistungen auch anderen Kreaturen zur Verfügung gestellt wurden, sorgten zwar für eine hohe Wertschätzung der Hexen in der Unterwelt, doch führte es auch dazu, das die sonst, zu Streitereien und zum Kampf aufgelegten Spezies, sich bei einer Auseinandersetzung mit den Hexen vor eben diesen Zaubern und Flüchen fürchteten und ihnen so lieber aus dem Weg gingen.
In Gedanken versunken folgte sie den Aufzeichnungen über die Wächter des Schatzes weiter hinein ins Innere der Höhle.
Auch ohne die verwitterten und verblassten Zeichnungen, die menschliche Krieger mit wolfartigen Silhouetten zeigten, die sich brüllend vor einer Truhe aufbäumten, hatte sie bereits geahnt, welchem Feind sie gegenüberstehen würde.
Das Echo eines herausfordernden Knurrens, am Ende des Ganges fand sie dabei schon beinahe überflüssig.
Andere hätten angesichts der nahen Bedrohung und dem Feind von dem sie ausging, wohl Keirs Zurechnungsfähigkeit in Frage gestellt und ihr zu einer unverzüglichen Flucht geraten, doch Keir hatte sich vorbereitet. Sie wusste, auf was sie sich hier einließ.
In der Unterwelt hatten die Werwölfe zusammen mit den Harpyien, Sirenen und Vampiren in den letzten 100.000 Jahren, die dem Hybriden Krieg folgten, dank ihrer jeweiligen unvergleichbaren Stärken, die innerhalb ihrer Spezies weitergegeben wurden, den größten Anstieg an Reichtum zu verzeichnen.
Jede war individuell und doch signifikant in ihrer Ausprägung.
So hatten die Harpyien ihre Schnelligkeit und Unverwundbarkeit, die es einem nahezu unmöglich machte sich ihnen in den Weg zu stellen.
Wohingegen der Gesang der Sirene selbst einen Unsterblichen in den Wahnsinn treiben und damit um den Verstand bringen konnte.
Doch trotz all dieser bemerkenswerten Eigenschaften, waren wohl die Werwölfe und die Vampire, die beiden Spezies, die nicht nur Keir als Hexe am meisten Respekt einflößten, sondern jedem einzelnen Unsterblichen der Unterwelt, seit der Vernichtung der Dämonen, Hommonkulus und Hybriden.
Seit dem Anfang ihrer Existenz besaßen beide Linien eine tiefverwurzelte Vergangenheit mit den Hexen, die in der Gegenwart kaum erwähnt, zwar noch immer zu brodelnden Spannungen führte, doch in der Vergangenheit unzählige Opfer gefordert hatte.
Während andere Spezies der Unterwelt sich mit den Jahrhunderten selbst entwickelt hatten und auf natürliche Weise mit dem Segen der Götter entstanden waren, gründeten die Existenzen der Werwölfe und Vampire auf unwiderlegbaren Flüchen, die einst von Hekate selbst auf sie niedergegangen waren.
Zu Beginn der Zeit noch menschlich und verwundbar, waren nun beide Linien zu den mächtigsten und gleichsam gefürchtetsten Verteidiger und Kriegern ihrer Welt herangewachsen.
Es mit den schwächsten ihrer Art aufzunehmen stellte für viele bereits eine tödliche Herausforderung dar.
Durch ihren rasenden Blutdurst getrieben, der Fähigkeit des Gedankenlesens und der Macht sich ohne eine greifbare Hülle zu bewegen, waren Vampire, die wie viele andere Unsterbliche auch nur durch Abtrennung des Kopfes oder wenige Zauber und Artefakte zu töten waren, zu einem beinahe unbezwingbaren Feind vieler Unsterblicher geworden.
Nur die Werwölfe, die dank der Verschmelzung des Teils in ihrem innern der ihre Bestie beherbergte und einem Bruchstück des Fluches, der auch nach Jahrtausenden noch an ihnen haftete, im Stande waren sich zu translozieren und so innerhalb eines Wimpernschlags ihren Standort zu ändern, waren im Zusammenspiel mit ihrer unvergleichbaren Stärke ihres jeweiligen Wolfes den Vampiren ebenbürtig und konnten diese in einem Kampf besiegen.
Waren sie in den ersten Generationen ihrer Art durch den menschlichen Part in ihnen noch unterlegen, so bildeten sie nun zwei der fünf herrschenden Spezies der Unterwelt.
Sowohl in Reichtum als auch Kraft.
Noch in Mitten der lang vergangenen Historie, die sich beiläufig in ihrem Kopf abspielte, erreichten Keirs Finger die Darstellung eines männliches Werwolfes, der sich wie zur Verbildlichung ihres Gedanken, mit aufgerissenem Maul auf einen wütenden Alphynen stürzte.
Den Figuren unter ihrer Hand folgend, sah sie, wie der greifähnliche Schweif des Alphynen sich aufbäumte und sich seine lange dünne Zunge bedrohlich um den hochaufragenden Körper des Werwolfes legte, doch in der nächsten Szene schon sah Keir, wie einzig, beinahe unerkennbare Überreste von dem niedergestreckten Alphynen zeugten, den der Werwolf ohne Anstrengung besiegt hatte. Nicht nur den Kopf hatte er seinem Gegner abgetrennt, er hatte ihm sämtliche Gliedmaßen abgerissen.
Die Feuerbälle an den Wänden flackerten als sie den kleinen Schauer widerspiegelten, der Keirs Rücken herunter lief.
Ihre noch nicht ganz unsterblichen Sinne erinnerten sie daran, das es bei Keir nicht einmal einer Abtrennung des Kopfes bedurfte um ihr eigenes Leben zu beenden.
Da sie noch nicht alt genug und damit in ihrer Unsterblichkeit verharrt war, konnte jede Verletzung die einen einfachen Menschen tötete auch bei ihr einen vergleichbaren Schaden anrichten.
Aber Keir weigerte sich rational zu denken und nächstes Jahr wiederkommen. Sie wollte sich selbst und vor allem aber ihrem Coven beweisen, das sie es auch ohne den Schutz, den die Unsterblichkeit mit sich brachte, schaffte, sich etwas so kostbares wie diesen Schatz zu eigen zu machen.
Es war nicht nur die Habgier die einer Hexe inne wohnte, die sie zu diesem Handeln trieb, sondern Keirs seltene Veranlagung sich nicht wie andere Hexen, Reichtum durch den Verkauf von Zaubern und Bannen anzuhäufen. Nein, Keir wollte sich ihre Kostbarkeiten selber verdienen und sich damit beweisen, das sie mit eigener Kraft in der Lage war, seltene Edelsteine und Artefakte zu beschaffen. Sie wollte nicht darauf warten, das ihr jemand das anbot, was sie haben wollte, sie war entschlossen, es sich selbst zu holen.
Auch wenn es manchmal mehr als Blut und Tränen kostete, dies zu erreichen.
In Keirs Augen war Besitz erst etwas Wert, wenn man dafür selbst gekämpft hatte.
Viele ihrer Zirkelmitglieder verdrehten ob ihrer für Hexen unnatürlichen Abenteuerlust die Augen und auch Keir selbst hätte nicht sagen können, warum diese Tatsache für sie eine so große Rolle spielte.
Das einzige was sie mit Sicherheit wusste, war, das sie es diesem Ruf nach Nervenkitzel zu verdanken hatte, das es sie in den letzten vier Jahren, seit dem Tag als sie 18 Jahre wurde, auf der Jagd nach den unterschiedlichsten Kostbarkeiten rund um die halbe Welt gezogen hatte.
Und nun waren es nur noch zehn Monate, bis sie das für weibliche Hexen typische Alter des Stillstandes erreichte.
Sowie Succuben, Harpyen, Nymphen, Vampire und all die restliche Bevölkerung der Unterwelt sein ganz individuelles Erstarrungsalter besaß, in dem das Mitglied einer jener Spezies den Übergang zur Unsterblichkeit vollzog, so hatten auch Hexen und Werwölfe ihren ganz individuellen Zeitpunkt, in dem der Körper eines Unsterblichen widerstandsfähiger, stärker und in seinen jeweiligen Fähigkeiten um ein vielfaches mächtiger wurde. Ab diesem Moment hörten die Zellen eines jeden Unterweltlers auf zu Altern und fortan gab es nur noch wenige Wege, um einen wahren Unsterblichen vollends zu töten. Die Jahre vor ihrem Erwachen, bezeichneten manche Spezies untereinander als die schlafende Phase ihres unendlichen Daseins. Unsterbliche heilten allesamt schnell, doch selbst nach der Erstarrung gab es weiterhin Arten, die manch anderen in ihrer Robustheit überlegen oder unterlegen waren. So besaßen Hexen zwar übernatürliche magische Kräfte, die sie dem Großteil der Unterwelt ebenbürtig oder sogar überlegen machten, doch waren ihre Körper im Gegensatz dazu so labil wie die der Nymphen und Succuben.Wie auch in anderen Punkten, hatten die Vampire und Werwölfe auch in diesem Aspekt, die Oberhand, wenn die Werwölfe dies auch noch mit einer Größe unterstrichen, die keinem anderen Unterwelt Bewohner sonst zu eigen war.
Manchmal fragte sich Keir wie es wohl gewesen wäre, als Werwölfen geboren wurden zu sein.
Dank ihrer Zauberkräfte kam sie sich jetzt schon beinahe unbesiegbar vor. Und das sogar noch vor ihrem Erwachen. Doch wie wäre es wohl als eine wahre Unsterbliche Werwölfen durch die Welt zu ziehen?
So mächtig und stark wie es sonst nur wenige andere Unsterbliche und die Vampire waren.
Niemand würde sie mehr aufhalten können.
Mit dem Zeigefinger fuhr Keir über die ausgeprägten Muskeln der animalischen Wandzeichnung und die kriegerische Haltung des siegreichen Werwolfes.
Er sah beinahe trotzig aus, wie er mit zufriedenem Gesichtsausdruck über den Überresten seines Feindes stand. Keir war sich sicher, das der Werwolf, der diesem Gemälde als Model gestanden hatte, ohne große Kratzer aus dem Kampf hervorgegangen war.
Dieser Gedanke lenkte Keirs Aufmerksamkeit zurück in die Gegenwart und den Rest der Steinernen Umgebung in der sie sich befand.
„Revelare in Conatio", raunte Keir suchend vor sich hin, während ihre Augen wachsam den erhellten Gang entlang wanderten.
Eine Weisse Wolke schlich lautlos über den kalten Boden und brach gegen eine unsichtbare Wand, deren Schutzrunen alarmierend zu pulsieren begannen.
Von Hexen erworbene Abwehrbarrieren.
Unüberwindbar und wirksam gegen Unterweltler.
Und unantastbar für Hexen des Covens.
DU LIEST GERADE
HYBRIDS Soul - Bhreac&Keir
FantasyIn der Welt der Unsterblichen gibt es nur eine Spezies, die mehr verabscheut wird als die fleischfressenden Ghule, die Nachts ihr Unwesen treiben; die Hybriden. Als Hybrid geboren zu werden gilt als Todesurteil. Seit 100.000 Jahren ist es Unsterblic...