Der Blick in den Spiegel

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Ich stehe vor dem Spiegel im Bad. Ich bin alleine. Mal wieder. Es tut innerlich weh, dass ich mich so ansehen muss. Mein Gesicht zu rund, meine Beine zu dick, mein Bauch erst recht. Leider Gottes könnte ich diese Liste noch ewig weiterführen. In mir trage ich den Wunsch, einmal meinen Vorstellungen gerecht zu werden. Wenn niemand dabei ist, hungere ich. Falls doch, versuche ich alles zu essen, damit es den Anschein macht, als wäre alles in Ordnung. Eigentlich ist meine Statur eher erblich bedingt und so viel kann ich dafür gar nicht. Trotzdem möchte ich es nicht so hinnehmen. In Zeitlupe betrete ich die Waage. Es ist ja nicht so, als ob ich genau das gleiche heute morgen und heute Vormittag schon getan habe. Naja, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Ein kurzer Augenblick der Freude. Danach wieder Missmutigkeit. Nein, ich bin immer noch zu dick. Ich ziehe den Bauch ein. So würde ich also aussehen, wenn ich einmal Disziplin zeigen würde. Nein stimmt ja, ich bin ein Versager. Beinahe hätte ich das vergessen. Ich kann rein gar nichts. Noch nicht einmal verzichten. Andere schaffen es doch auch. Wieso ich nicht. Ich schaue in den Spiegel. Auf meinem Brustkorb hoben und senkten sich die Schmarren. Sollte ich? Ich muss zu spüren bekommen, dass ich ein Versager bin. Nur so kann ich es besser machen. Ich weiss, dass es nicht nur um Verzicht geht und dass es auf gesundes Essen ankommt. Heute Abend habe ich aber trotzdem wieder keinen Hunger. Mein BMI ist zu hoch. Leichtes Übergewicht. Einmal Normal sein... In diesem Fall setze ich normal mit normalgewichtig gleich. Vielleicht rückt an diese Stelle irgendwann einmal das leichte Untergewicht. Vielleicht gibt es den Zeitpunkt, an dem ich selber nicht zufrieden mit dem Normalgewicht sein werde. Ich ertappe mich in meinen Gedanken und schäme mich. Wieso sollte es mir so viel ausmachen Übergewicht zu haben? Ich mache Sport und bin viel draußen... Auch bin ich nicht krank. Sonst habe ich mir doch nie viel aus dem Gesellschaftsideal gemacht. Warum vergleiche ich auf einmal? Wieso reduziere ich mich selbst nur noch auf meine Äußerlichkeiten? Bei anderen Leuten bewerte ich die Art also eher die Innerlichkeiten. Wieso bei mir nicht?

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