Prolog

13 5 3
                                    

Sie zupfte zaghaft an seinem lockeren T-Shirt, sodass er sich zu ihr umdrehte, ihre Finger mit seinen verschränkte und sie weiter mit sich zog. Die Dämmerung hatte schon vor einiger Zeit eingesetzt und so war die Sonne nahezu vollständig hinter einigen Häusern der Siedlung verschwunden. Sie waren Kinder, sie nicht älter als acht Jahre und er gerade einmal zehn. Die Kälte kroch unter ihre Kleidung und eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Körpern aus. Um diese Zeit sollten sie Zuhause auf dem Sofa sitzen und mit ihren Eltern einen Film schauen. Stattdessen hetzten sie auf der Suche nach Sicherheit durch die Siedlung. Ihr Vater hatte sie fortgeschickt, als er auf einmal von zwei schwarz gekleideten Männern in die Mangel genommen wurde. Die Angst ging dem Mädchen unter die Haut und sie griff die Hand des Jungen reflexartig fester. „Ich habe Angst...", wisperte sie und der Junge wandte sich ihr zu. Er nahm sie fest in den Arm und lehnte sein Kinn an ihren Kopf. „Wir schaffen das", versuchte er sie zu beruhigen, „Alles wird wieder gut." Plötzlich hörten sie einen lauten Knall und das Mädchen zuckte zusammen. Der Junge hingegen setzte sich sofort in Bewegung und zog sie erneut mit sich. Er wusste nicht genau, wohin sie liefen, aber das war ihm egal, solange der Weg sie weit weg von der Gefahr brachte. Doch der Junge rannte zu schnell und so stolperte das Mädchen über ihre eigenen Füße und stürzte der Länge nach auf die harten und kalten Pflastersteine. Tränen schossen ihr in die Augen und dem Jungen zerbrach es das Herz. Er zog sie blitzschnell wieder auf die Beine, doch diese drohten unter der Last und der Angst, die durch ihren Körper raste, zusammenzubrechen. Als sie langsam in sich zusammensackte, seufzte der Junge und fing sie rechtzeitig auf. Er ließ sich auf den Boden sinken, zog sie auf seinen Schoß und schaute sich um. Seine Arme legten sich eng um ihren Körper, in der Hoffnung ihr Zittern zu mindern. Sie befanden sich auf einem großen Platz, hier war er noch nie zuvor gewesen. Er strich mit der Hand über ihr dunkles Haar und der Duft von Apfelshampoo stieg ihm in die Nase, was ihn trotz der Umstände unwillkürlich lächeln ließ.

Eine ganze Weile saßen sie eng umschlungen da, doch mit jeder Minute stieg die Unruhe des Jungen. Plötzlich schälte sich eine fremde Gestalt aus der Dunkelheit und fixierte die beiden Kinder auf dem Boden. Selbstsichere Schritte erschütterten den Boden unter ihnen. Sofort sprang der Junge auf und nahm das Mädchen, welches mittlerweile komplett durchgefroren und zu einem regelrechten Eisblock geworden war, auf den Arm. Er spürte, wie ihr kleiner Körper bebte und hörte ein leises Schluchzen. Tränen liefen dem Mädchen über die Wangen und sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Der Junge würde es sich nie verzeihen, wenn ihr etwas geschehen sollte. Er traute sich nicht, sich nach ihrem Verfolger umzudrehen, aber hoffte inständig, ein wenig Abstand zwischen sich und ihn gebracht haben zu können. Hastig bog er in einen schmalen Kiesweg und zog das Mädchen in einen dunklen Hauseingang. Das Licht der Straßenlaterne fünfzig Meter weiter erreichte sie nicht und so verschwanden sie vollständig im Schatten. Behutsam ließ der Junge das Mädchen auf dem Boden nieder und zog geschmeidig seine dicke Jacke aus. Sein Blick glitt über ihren zierlichen Körper und verhakte sich mit ihrem, als er ihre Augen erreichte. In ihnen standen neben der Angst einige Tränen und der Wille des Jungen das Leben des Mädchens um jeden Preis zu retten verfestigte sich noch mehr. Fürsorglich deckte er sie mit seiner Jacke zu, kniete sich kurz darauf neben sie und umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. „Es tut mir so leid...", seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Sein Blick sprang zwischen ihren Augen hin und her und er blinzelte einige Male, um die Tränen, die drohten, seine Wangen herunterzulaufen, zu verbergen. Für einen kurzen Moment kniff er die Augen zusammen und riss sie abrupt wieder auf, als er Schritte auf dem Kies hörte. Es waren vorsichtige, schleichende Schritte, so als hätte ihr Verfolger seine Taktik geändert und wollte sich ihnen nun unbemerkt nähern. Der Junge versuchte sich zu sammeln, konzentrierte sich und legte seine Stirn an die des Mädchens. Seine Augen waren geschlossen, als er ein paar unverständliche Worte murmelte und anschließend einen federleichten Kuss auf die kalte Stirn des Mädchens hauchte. Abrupt stand er auf und wich einen Schritt zurück. Er musste schleunigst von hier verschwinden, sonst bestand die Gefahr, dass er es sich noch einmal anders überlegte. Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an, als er sich umdrehte und sein Körper mit der Dunkelheit verschmolz. Unbehagen und Einsamkeit machten sich im Inneren des Mädchens breit und sie schlang ihre Arme um ihre Knie. Er hatte sie hier nun nicht wirklich alleine gelassen. Sie musste Träumen, das alles passierte gar nicht wirklich. Ehe sie weiter darüber nachdenken konnte wurde sie von einem Schwindelgefühl erfasst und kippte mit ihrem Körper auf die Seite. An ihrer Wange fühlte sie den kalten Stein des Hauseingangs. Vor ihren Augen erschien ein Strudel aus Bildern und Erinnerungen. Es schien als würde sich alles um sie herum auflösen und sie in ein tiefes, schwarzes Loch fallen. Langsam aber sicher verlor sie das Bewusstsein und hörte somit nicht mehr, wie ein Schuss die Stille für einen kurzen Moment zerriss. Danach war alles wieder totenstill...

Anima - Blick in meine SeeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt