Kapitel 2

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Ich schrecke hoch, sitze senkrecht im Bett und schaue hektisch durch das Zimmer. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es kurz nach sechs Uhr abends ist. Mist, ich muss los! Hektisch springe ich aus dem Bett und schlüpfe in meine Arbeitsklamotten. Nach der Schule - oder wohl eher nach dem Desaster einer Mathestunde – hatte ich es tatsächlich geschafft mich zuhause rein zu schleichen und unbemerkt in mein Zimmer zu kommen. Offenbar war ich aber, nachdem ich mich auf mein Bett geschmissen und Löcher in die Zimmerdecke gestarrt hatte, eingenickt und hatte somit den ganzen Nachmittag verschlafen. Ich binde meine langen schwarzen Locken zu einem Pferdeschwanz und schnappe mir mein Fahrrad aus der Garage. Schon bin ich auf dem Weg zu der Bar - oder wohl eher dem kleinen irischen Pub - in dem ich arbeite. Heute ist wirklich nicht mein Tag. Wie gesagt, ich komme nie zu spät, doch schon das zweite Mal heute, bin ich verdammt spät dran. Diese Tatsache nagt an mir. Ich habe mein Leben im Griff, ich kenne meine Termine, meine Pflichten und erledige alle meine Aufgaben stets zu der Zufriedenheit aller Beteiligten. Das füllt mich aus, das ist die Art und Weise, wie ich versuche die Normalität in meinem Leben zu bewahren... oder zumindest das, was von ihr übrig ist.

Nach zwanzig Minuten Fahrt, stelle ich um kurz vor halb sieben das Rad am Hintereingang des Pubs ab und betrete die Räumlichkeiten gerade noch rechtzeitig. Mein Chef wirft mir einen Blick zu, prüft anschließend die Uhrzeit und nickt kurz darauf. Er wirkt leicht verstimmt, was ich ihm nicht verübeln kann. Sobald ich spät dran bin, ist das ein Grund zur Sorge für ihn. Und Sorgen hat er schon genug. „Tut mir leid, Mike... Heute ist ein komischer Tag.", murmle ich im Vorbeigehen und beginne, die dreckigen Gläser, die auf der Theke stehen, zu spülen. Der Pub ist nicht wirklich gefüllt. In einer Ecke sitzen wie jeden Montag drei Männer und spielen Karten, während an der Theke ebenfalls ein Stammgast das vierte Bier bestellt. Voller wird es hier erst immer ab acht Uhr, jedoch braucht Mike jemanden, der bis dahin die Stellung hält, damit er den Abend mit seiner Tochter verbringen kann, die er nur zweimal die Woche sieht. Auch er wird des Öfteren von anderen Menschen angestarrt, aber ich stelle ihm darüber keine Fragen. Natürlich habe auch ich das ein oder andere Gerücht gehört, jedoch beruht das auf Gegenseitigkeit und dennoch spricht Mike mich nicht darauf an. Wir respektieren einander und waren, ohne jemals über Details aus unserem Leben gesprochen zu haben, vertraut miteinander. „Du hast die Lage im Griff, nicht wahr? Dann bin ich jetzt weg. Ich komme wie immer gegen elf Uhr wieder, dann kannst du pünktlich Feierabend machen. Tobi kommt um acht.", Mike klopft mir leicht auf die Schulter, während ich nicke und verlässt anschließend den Pub. Ich zapfe das Bier für den Mann an der Theke und widme mich dann erneut den Gläsern. Mike hat in seiner Jugend viel Zeit in Irland verbracht und somit stets den Traum verfolgt in seiner Heimat einmal einen irischen Pub zu eröffnen. Wenn man den Pub betritt, fühlt es sich an als betrete man eine andere Welt. Mum hatte mir erzählt, dass Papa dem Charme dieses Pubs vollkommen verfallen war und jede Woche nach Feierabend hier ein Bierchen getrunken hatte. Manche würden es vielleicht Folter nennen, dass ich nun ausgerechnet hier arbeite, aber ich war nie gemeinsam mit ihm hier gewesen (schließlich war ich noch viel zu jung) und so verbinde ich mit diesem Ort keine Erinnerungen in Bezug auf ihn. Dennoch fühle ich mich ihm hier seltsam näher als irgendwo anders.

Als die Türglocke ertönt und ich den Blick hebe, überkommt mich prompt ein schlechtes Gewissen. Luke kommt geradewegs auf die Theke zu und fixiert mich mit seinem Blick. „Ist alles in Ordnung bei dir? Am Telefon hörtest du dich etwas verwirrt an.", die Besorgnis ist deutlich aus seiner Stimme herauszuhören und ich habe wie schon so oft das Gefühl, als würde er mich bemuttern. Ich seufze: „Ja, mir geht's gut, aber heute Vormittag habe ich mich nicht in der Lage gefühlt, mit dir zu proben. Tut mir leid. Ich hoffe, du bist mir nicht böse." Ich meide seinen Blick. Menschen zu enttäuschen, war schon immer eine Furcht von mir gewesen und Luke ist sehr ehrgeizig, genau wie ich. „Ach Mary, wann war ich dir jemals böse? Ich habe mir nur Sorgen gemacht. Wir sind ein eingespieltes Team, wenn uns eine Probe fehlt, ist das nicht so schlimm." Er tätschelt meinen Arm und ich lächle ihm zu. „Wie wäre es mit einem Bier? Geht auf mich.", ohne seine Antwort abzuwarten, zapfe ich das Bier und stelle es ihm vor die Nase. Kurz darauf kommt mein Kollege Toby. Ich kenne ihn nicht wirklich. Wir arbeiten einmal die Woche für ein paar Stunden zusammen und ergänzen uns gut. Es ist schlichtweg eine rein berufliche Beziehung. Der Abend vergeht langsamer als sonst. Es sind nicht so viele Gäste da, Luke beobachtet mich von seinem Platz an der Theke aus und irgendein Fremder baggert mich die ganze Zeit unverschämt an. Ich kann es nicht oft genug sagen: Dieser Tag ist eine Katastrophe. Dennoch nicke ich, als Mike wiederkommt und mich fragt ob alles in Ordnung ist. Er würde sowieso nichts daran ändern können, zumal ich keine Ahnung habe wie ich erklären soll, was genau das Problem ist. Genau, was ist eigentlich das konkrete Problem? Ich weiß es nicht. Erneut reißt mich der Klang der Türglocke aus meinen Gedanken und augenblicklich weiß ich, was das Problem ist. Oder besser gesagt wer. Aus irgendeinem Grund macht mein Unterbewusstsein den Typen von heute Morgen für alles verantwortlich. Er schaut sich im Raum um und beginnt zu lächeln, als seine Augen meine treffen. Ich weiß nicht genau, warum, aber mir gefällt diese Reaktion und ein warmes Gefühl breitet sich in meiner Mitte aus. „Schwarz scheint deine Farbe zu sein, betont deine blauen Augen.", er zwinkert mir charmant zu und zieht sich einen Barhocker heran. Er ist offensichtlich in Flirtstimmung, denn so offensiv war er heute Morgen noch nicht gewesen. Aber dort habe ich schließlich auch noch nicht meine schwarzen Arbeitsklamotten getragen. Ich beschließe, nicht auf sein Kompliment einzugehen, immerhin sollte ich versuchen, herauszufinden, was an ihm ist, dass ich derartig wahnsinnig werde. „Was machst du hier?", versuche ich mich an ein wenig Smalltalk. Er zuckt mit den Schultern: „Ich bin neu in der Stadt, da wollte ich mal schauen, was man hier abends so machen kann." Ich muss schmunzeln. „Und da kommst du ausgerechnet in diesen Pub, wo nur alte Leute rumsitzen?" Er schaut sich nochmals um: „Naja, der da hinten sieht doch aus, als wäre er in unserem Alter..." Es ist Luke in dessen Richtung er nickt und ich habe bisher gar nicht bemerkt, dass er noch hier ist und mich tatsächlich immer noch beobachtet. Kurz verhaken sich unsere Blicke ehe ich mich wieder dem Typen vor mir zuwende. „Und außerdem wollte ich herausfinden, was für ein Mensch du bist." Seine Direktheit überrascht mich und hinterlässt mich sprachlos. Ich versinke in seinen Augen und suche nach Antworten auf Fragen, die ich nicht in der Lage bin in Worte zu fassen. Ohne den Augenkontakt zu unterbrechen hebt er ein Glas an seine Lippen und nippt an dem Getränk. Ich habe keine Ahnung, von wem er das bekommen hat, aber das ist nicht von Wichtigkeit. „Dito.", wispere ich als schlichte Antwort. Kurz darauf tippt mir jemand auf die Schulter. „Mary, wenn du willst kannst du jetzt Feierabend machen. Du musst ja morgen früh aufstehen.", Mike zwinkert mir zu und wendet sich anschließend wieder an einen Gast. Ich sehe den Typen, dessen Namen ich immer noch nicht weiß, entschuldigend an und mache mich daran, aufzubrechen. Den Kommentar, dass ich nach jeder Schicht „früh" aufstehen muss, spare ich mir und habe schon die Türklinke in der Hand, als mich eine Stimme aufhält. „Ich könnte dich nach Hause begleiten. Es ist schließlich schon dunkel draußen." Normalerweise wäre es Luke gewesen, dem ich so eine Aktion am ehesten zugetraut hätte, aber es ist der fremde Typ. Eines muss man ihm lassen: Er ist hartnäckig. „Meinst du nicht, dass ich den Weg alleine finde?" Ich setze mich in Bewegung zu meinem Fahrrad und öffne das Schloss. „Daran habe ich keinen Zweifel, zumal ich gar nicht weiß, wo du wohnst, aber du würdest eine fantastische Gesellschaft ausschlagen." Er ist mir nach draußen gefolgt und seine Selbstsicherheit finde ich schon ein wenig beeindruckend. Auch wenn er natürlich keine schlechte Figur in seinem lockeren Shirt und der schlichten Jeans macht. Ganz im Gegenteil! „Wenn das so ist, hinterfrage ich jetzt einfach nicht, woher du wusstest, dass du mich hier findest und nehme dein Angebot an." Ich setze mich auf mein Rad und beobachte wie er lächelnd zu einem der anderen Räder, die hier stehen, geht und dessen Schloss aufschließt. „Ja besser, du fragst nicht.", gibt er mir recht und folgt mir auf dem Fahrrad, als er neben mir angekommen ist, spricht er weiter: „Also Mary... du hast heute so vielsagend über Wahrheiten gesprochen. Was ist denn die Wahrheit über dich?" Ich schlucke. Jetzt geht das schon wieder los. Hat er denn nicht verstanden, dass ich darüber nicht sprechen will? Er scheint meine Reaktion richtig zu interpretieren und setzt hinzu: „Damit meine ich nicht das Thema von heute Morgen. Ich meine, die Wahrheit darüber, wer du bist..." Die Betonung auf dem „wer" lässt mich stutzen, da ich keine Ahnung habe, was er meint, wenn er sich so kryptisch ausdrückt. „Sag mir doch zunächst lieber mal, wer du bist?" Ich betrachte ihn von der Seite und beobachte, wie er den Kopf in den Nacken legt und zu lachen beginnt. Es ist ein schönes Geräusch. Der Fahrtwind zieht an meinen Haaren, die beginnen, sich aus meinem Zopf zu lösen und die milde Sommerabendluft erfüllt meine Lungen. „Ich habe mich schon gewundert, wann diese Frage kommt. Hat ganz schön gedauert...", mehr sagt er nicht, das darf doch nicht wahr sein. „Also?", frage ich ungeduldig und fixiere die Straße vor mir. Nur die Lampen unserer Fahrräder beleuchten den Asphalt und ab und an kommen wir an einer alten Straßenlaterne vorbei. „Ich bin David Fields, sehr erfreut. Vor zwei Wochen bin ich hergezogen und bin heute den ersten Tag seitdem in die Schule gegangen.", stumm danach fragend, ob mir diese Antwort reicht, blickt er mich an und ich zucke mit den Schultern. Alles, was mich interessiert hat, ist sein Name. Den muss ich Zuhause erstmal recherchieren. „Jetzt bist du dran", fordert er mich auf, „Wer ist Mary? Was ist Mary?" Die Frage trifft mich unvorbereitet, auch wenn er sie schon einmal in anderer Form gestellt hat. Was genau meint er damit? Und wenn ich es wüsste, könnte ich ihm dann die Antwort geben, die er hören will? „Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, worauf du hinauswillst, aber ich bin Mary Guards. Ich bin in dieser Stadt geboren und naja, ich habe schon immer viel Aufmerksamkeit von den Menschen, um mich herum, bekommen." David mustert mich und scheint den Wahrheitsgehalt meiner Worte zu prüfen, dabei weiß ich nicht, womit ich ihn angelogen haben soll. Fassungslos scheint er zu einer Erkenntnis zu kommen. „Du weißt es nicht oder?", flüstert er mehr zu sich selbst als zu mir und meine Stirn legt sich in Falten. Was soll ich nicht wissen? „David weißt du, ähm, ich muss nur noch bis zum Ende der Straße und dann abbiegen. Das schaffe ich auch alleine, aber danke, dass du mich begleitet hast." Ich sehe ihm nicht in die Augen, da sonst die Gefahr besteht, dass sie mich einlullen, obwohl die Situation sich so unbehaglich anfühlt. David nickt nur mechanisch, mit seinen Gedanken offenbar noch immer ganz woanders. Mehr als je zuvor würde mich interessieren, was er denkt. Ohne noch etwas zu sagen, trete ich in die Pedale und bringe einige Meter Abstand zwischen uns. „Wir sehen uns dann morgen?", ruft er mir fragend hinterher, als ich schon glaube, dass ich keine Reaktion mehr von ihm bekomme. Ich drehe meinen Kopf zu ihm nach hinten und beobachte, wie er mitten auf der Straße steht und mir nachsieht. In dem Wissen, dass er es wahrscheinlich nicht sieht, nicke ich. Da er in dem Lichtkegel einer Straßenlaterne angehalten hat, sehe ich seine Reaktion hingegen klar und deutlich. Erschrocken reißt er seine Augen auf und ruft meinen Namen. Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, dass nicht ich, sondern irgendetwas vor mir das bei ihm auslöst. Also richte ich meinen Blick nach vorne auf die Fahrbahn und starre in zwei helle, frontal auf mich gerichtete, Lichtkegel. Die Zeit bleibt stehen. Ich weiß nicht, ob ich schreie, denn alles um mich herum ist still. Ich bin nicht fähig, mich zu bewegen und noch weniger bin ich in der Lage, zu verstehen, was gerade passiert. Ich weiß nur eins, ich will noch nicht sterben.

Anima - Blick in meine SeeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt