Kapitel 4

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Ich habe mein Leben im Griff. Ich gehe zur Schule, ich erledige meine Hausaufgaben, schreibe gute Noten, gehe arbeiten und ... lebe. Dieser Gedanke jagt mir eine Gänsehaut über die Arme. Ich lebe. Noch nie kam mir diese Tatsache so absurd vor, wie in diesem Moment. Hat David recht und man wollte mich wirklich umbringen? Wenn ja, wer hat dieses Auto gefahren? Während ich grüble, stapfe ich über den Grünstreifen neben der Straße, weil ich es nicht darauf anlegen möchte, den Vorfall von gestern zu wiederholen. Da ich beim besten Willen keine Antworten auf die Fragen in meinem Kopf habe, beschließe ich einen imaginären Schlussstrich unter ihnen zu ziehen und krame in meiner Tasche nach meinem Handy. Als ich es entsperre, werden mir einige verpasste Anrufe und Nachrichten von Luke angezeigt. Na wenigstens einem scheint aufgefallen zu sein, dass ich heute bisher nicht in der Schule aufgetaucht bin. Kurzerhand öffne ich die Nachrichten und beginne eine Antwort zu tippen: Keine Sorge, ich bin gerade auf dem Weg zur Schule. Ich lasse dich doch nicht bei unserem großen Auftritt hängen ;) Nur Sekunden nachdem ich auf „Senden" gedrückt habe, kommt auch schon seine Antwort: Das habe ich auch nie bezweifelt, habe mir nur Sorgen gemacht :/ Ohne dass ich es kontrollieren kann, verzieht sich mein Mund zu einem Lächeln und ich stecke mein Handy mit einem leichten Kopfschütteln zurück in meine Tasche, die ich darauf hin neu schultere. Luke und ich kennen uns schon Ewigkeiten und trotzdem hat sich zwischen uns nie mehr als Freundschaft ergeben. Es ist nicht so, dass ich mir das wünsche, aber manchmal ist er einfach etwas zu fürsorglich als es für einen guten Kumpel gesund ist. Als mein Handy auf einmal klingelt und somit die Stille um mich herum zerreißt, zucke ich erschrocken zusammen und stöhne auf als ich Lukes Namen auf dem Display lese. Genau das meinte ich gerade. „Was gibt's?", melde ich mich etwas gereizt und schaue prüfend nach links und rechts, als ich eine Querstraße überquere. „Warum kommst du jetzt erst zur Schule?", fragt Luke seelenruhig und ich verdrehe genervt die Augen. „Ich habe verschlafen.", murre ich und blicke flehend gen Himmel in der Hoffnung, dass er nicht weiter nachbohrt und die halbe Lüge schluckt. „Das wäre dann das erste Mal in deinem Leben, Mary. Aber gut, passiert den besten. Treffen wir uns, gleich wenn du da bist in der Aula?" Okay, er hat es mir nicht geglaubt, aber immerhin besitzt er so viel Anstand, mich nicht weiter auszufragen. Als Antwort auf seine Frage nicke ich stumm, wohlwissend, dass er das nicht sehen kann, aber eigentlich will ich mich nicht mit ihm treffen, denn dann würde das Bemuttern weiter gehen. Dennoch murmle ich seufzend ein „Ja bis gleich" in mein Telefon und lege auf. Ich komme ja doch nicht darum herum, wenn wir ohnehin heute Nachmittag unser Projekt zusammen vorstellen müssen. Frustriert vergrabe ich meine Hände in meinen Jackentaschen und lasse meinen Blick über die Landschaft schweifen, als dieser aber an einem undefinierbaren Etwas, das am Straßenrand auf der anderen Seite nur ein paar Hundert Meter vor mir liegt, hängen bleibt, bleibe ich abrupt stehen und merke, wie sich mein Puls beschleunigt. Das muss die Stelle von gestern Abend sein, wird mir klar, als ich dann doch langsam einen Fuß vor den anderen setze und somit beginne, mich dem Etwas zu nähern. Mit klopfendem Herzen komme ich schließlich vor einem verbeulten und sehr demolierten Fahrrad, was dennoch unverkennbar meins ist, zum Stehen. Besagtes Fahrrad war dem Auto als nicht mehr entkommen. Wie auch? Ich war ja nicht im Stande gewesen, mich selbstständig zu bewegen. Als würde mein Unterbewusstsein mich verspotten wollen, taucht nun Davids Gesicht vor meinem inneren Auge auf und seine Worte hallen durch meinen Kopf: „Mary, dich wollte jemand umbringen." ... „Du machst dir was vor Mary und das weißt du auch ganz genau." Weiß ich das denn? Ich horche in mich hinein, auf der Suche nach einer kleinen Stimme, die mir sagt, dass David recht hat. Aber alles in mir schweigt. Mein Kopf ist leer. Ich weiß gar nichts mehr. Ich habe keine Antworten, aber noch viel schlimmer, ich weiß gar nicht welche Fragen ich genau stellen soll und schon gar nicht wem. Wer zur Hölle soll mir meine Fragen beantworten können? Ich schlinge mir die Arme um meinen Oberkörper und stapfe weiter, mache mir aber eine imaginäre Notiz, dass ich dieses Fahrrad in nächster Zeit entsorgen muss. Wenn Mum es hier liegen sehen würde, wenn sie auf dem Weg nach Hause hier vorbeikommt, bekäme sie einen Herzinfarkt. Erst jetzt spüre ich den riesigen Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat und würde am liebsten laut schreien. Denn hier sind wir wieder: Ich und der unstillbare Durst nach Antworten und Wahrheit.

Anima - Blick in meine SeeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt