Kapitel 5

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Davids Augen ziehen mich in seinen Bann und lassen mich nicht mehr los. Was macht er hier und warum lässt er mich nicht einfach in Ruhe? Wie hypnotisiert beobachte ich, wie er sich seelenruhig in der letzten Reihe niederlässt und dabei keine Sekunde unseren Augenkontakt unterbricht. Es scheint ihm Genugtuung zu geben, dass ich nicht fähig bin, meinen Blick von ihm loszureißen. Das ändert sich jedoch schlagartig als ich zwei Hände an meiner Hüfte spüre, die mich zu sich herumdrehen. Erst jetzt nehme ich wieder die Klänge der Musik wahr und stelle erschrocken fest, dass ich meinen Einsatz verpasst habe. Lukes Blick spricht Bände, doch er scheint gekonnt improvisiert zu haben, weshalb es für mich nun ein leichtes ist, diesen kleinen Fauxpas zu überspielen. Spielend leicht bringe ich Luke und mich in die Position, die wir nun eigentlich eingenommen hätte, ziehe ihn an seinen Händen zu mir herüber und setze in unsere geplante Choreografie ein, die einige Rumba- und Tangoelemente aufweist. Sofort beginnt Luke mich zu führen und lächelt mich an. Ich habe es wieder geradegebogen. In diesem Moment dreht Luke mich mit einem Ruck um meine eigene Achse und ich löse mich anschließend aus seinem Griff. „Everytime I close my eyes, I see your face burning bright", beginne ich zu singen und meine Stimme erfüllt über die Lautsprecher den gesamten Raum. Mutig erhasche ich einen Blick zu David, der weiterhin jeder meiner Bewegungen folgt und fokussiere mich schnell wieder auf Luke, bevor David mich erneut aus meiner Fassung bringen kann. Lukes und mein Blick verhaken sich ineinander und ich versuche alles um uns herum auszublenden, damit die Intimität dieses Songs möglichst authentisch ist. Wenn wir miteinander tanzen spüre ich die Muskeln unter seinem schlichten grauen T-Shirt und wenn wir ganz nah voreinander stehen, umfasst er mein Gesicht, als wäre ich das Wichtigste in seinem Leben. Je mehr ich mich in unserem Auftritt verliere, desto schneller beginnt mein Herz zu klopfen und desto näher fühle ich mich Luke. Als wir uns dem Ende unseres Songs nähern, schließe ich die Augen und gebe mich dem wohligen Gefühl vollkommener Zufriedenheit, welches sich in meiner Mitte ausbreitet, hin. Ich spüre Lukes Lippen hauchzart über meine Wange streifen und lehne mich gegen ihn, als die letzten Töne verklingen und das Licht langsam ausgeht. Wie in Zeitlupe öffne ich meine Augen wieder und starre in das vom roten Licht umhüllte Publikum. Verwirrt blicke ich mich um. Seit wann haben wir Scheinwerfer, die solch ein Licht erzeugen können? Außer mir scheint allerdings niemand anderes im Raum darüber verwundert zu sein, stattdessen sind unsere Zuschauer aufgestanden und klatschen nun kräftig Beifall. Ich merke, wie sich ein breites Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet und nehme nun auch David wahr, der seinen Kopf schiefgelegt hat und deutlich langsamer als alle anderen in die Hände klatscht. Erst als er bemerkt, dass ich ihn ansehe, steht er provozierend langsam auf und hebt seine Augenbrauen fragend in die Höhe. Ja, du Vollidiot, das genügt mir! Unsere gesamte Gruppe inklusive Herr Munelli ist hellauf begeistert und ich platze fast vor Stolz, denn Luke und ich haben noch nie eine eigene Inszenierung präsentiert und deswegen war ich innerlich doch sehr unsicher gewesen, wie das bei den anderen ankommen wird.

Ein leichtes Ziehen an meinem Arm holt mich zurück ins Hier und Jetzt und ich lasse mich von Luke von der Bühne in den kleinen Backstage-Bereich manövrieren. Ehe ich mich versehe finde ich mich in einer festen Umarmung wieder und atme Lukes herben Geruch ein. „Du warst großartig.", murmelt er in mein Ohr, „Naja, wenn man von den Startschwierigkeiten mal absieht". Ich höre ihn schmunzeln und begreife erleichtert, dass er mir nicht böse ist. „Sag mal...", beginnt er zögernd, „Was hat dich so aus dem Konzept gebracht?" Abrupt löse ich mich aus seiner Umarmung und bringe eine Armlänger Abstand zwischen uns, während Luke mich wachsam beobachtet. Ich erkenne ein Funkeln in seinen Augen und habe aber leider keine Ahnung, wie ich dieses deuten soll. „Ich weiß es nicht.", flüstere ich kaum hörbar. Es widerstrebt mir, Luke die Wahrheit zu sagen, denn das geht ihn nichts an. Ich weiß ja noch nicht einmal selber, warum genau David solch eine Wirkung auf mich hat. Kaum merklich kommt Luke mir wieder näher und ich weiche ihm instinktiv nach hinten aus, bis ich eine Wand in meinem Rücken spüre. Endstation. „Warum bist du heute so seltsam? Dein Verhalten passt nicht zu dir.", auch Luke flüstert seine Worte, womöglich damit die Leute vor der Bühne uns auf keinen Fall hören. Den lauten Stimmen nach zu urteilen, hätten sie das aber so oder so nicht, da sie anscheinend zur wöchentlichen Besprechung übergegangen sind. Mittlerweile steht Luke unmittelbar vor mir und ich kann seinen Atem auf meiner Haut spüren. Er kesselt mich ein. Seine Hände stützt er links und rechts von meinem Kopf an der Wand ab, während er sich leicht gegen mich lehnt. „Warum waren wir eigentlich nie mehr als Freunde?", wispert er nun und ich erwische ihn dabei, wie er auf meine Lippen schaut. Ich bin wie versteinert, nicht fähig auch nur in irgendeiner Weise auf seine Fragen zu antworten. Stattdessen beobachte ich ihn nur, abwartend, was passiert. Langsam nähert er sich meinem Gesicht und ich halte die Luft an. Eigentlich hätte ich schon längst irgendetwas machen sollen, ihn wegstoßen, ihn anmeckern, aber den Moment dafür habe ich allem Anschein nach verpasst. Lukes Mundwinkel zucken, so als hätte er jeden meiner Gedanken gehört. Und dann presst er seine weichen Lippen auf meine. Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns küssen, aber das erste Mal, dass es abseits der Bühne passiert. Und... mein Kopf ist leer. Ich denke nichts, ich fühle nichts. Im Gegenteil. Alles in mir schreit danach, dass Luke mich loslassen soll. Mit einem Mal prasseln ganz viele Gefühle auf mich ein: Es fühlt sich falsch an, als spiele ich eine Filmrolle, die nicht meine ist. Noch immer unfähig mich zu bewegen, stehe ich vor ihm und spüre seine Lippen auf meinen. Doch plötzlich geht ein Ruck durch meinen Körper, als hätte endlich jemand das Licht wieder angeknipst und ich befreie mich mit einem kräftigen Stoß gegen Lukes Oberkörper aus meinem kleinen Gefängnis. Schützend verschränke ich meine Arme vor der Brust und funkle ihn böse an. „Was sollte das?", meine Stimme ist nicht mehr als ein Hauchen, was mich ärgert. Er soll meine Verwirrung nicht spüren, doch sein Mund verzieht sich zu einem breiten, spöttischen Grinsen bevor er mit den Schultern zuckt. „War bloß ein kleines Experiment", antwortet er mit schiefgelegtem Kopf, was etwas in mir zum Explodieren bringt. „Ist das dein Ernst?", brülle ich und ich bin mir sicher, dass jeder in der Aula mich hören kann. „Du bist wirklich unausstehlich, ich fasse es nicht." Aufgebracht überbrücke ich den Abstand zwischen uns und schlage ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Sein Kopf fliegt zur Seite und seine Kiefermuskulatur spannt sich an. Ich warte nicht auf seine weitere Reaktion, sondern laufe mit schnellen Schritten an ihm vorbei, auf die Bühne und die Treppe herunter in den Zuschauerbereich. Alle Augenpaare sind auf mich gerichtet, doch ich beachte sie nicht. Das Adrenalin, dass durch meine Adern fließt, treibt mich an und so renne ich schon fast durch den Mittelgang zum Ausgang und ziehe die schwere Tür auf. Ich muss hier raus. Flink schlüpfe ich hinaus auf den Flur und sprinte zu den Mädchentoiletten. Erleichtert lehne ich mich von innen gegen die Tür, als ich kontrolliert habe, dass niemand anderes hier ist. War bloß ein kleines Experiment., hallt Lukes Stimme in meinem Kopf wider und ich habe das spontane Bedürfnis, mich zu übergeben. Was denkt er, wer er ist? Was denken alle heute, wer sie sind? Erst David, jetzt Luke. Sie sollen mich alle einfach in Ruhe lassen. Ich brauche sie nicht. Ich brauche niemanden.

Als mein Puls sich allmählich beruhigt stoße ich mich von der Tür ab, gehe zu einem der Waschbecken und lasse kaltes Wasser über meine Handgelenke laufen. Anschließend spritze ich mir auch etwas Wasser ins Gesicht und raufe mir frustriert die Haare. Vorsichtig betrachte ich mich im Spiegel: Meine schwarzen Locken hängen mir ins Gesicht und der rote Lippenstift ist leicht verwischt. Mit dem Daumen fahre ich mir über die Unterlippe und versuche das Gefühl von Lukes Lippen auf meinen abzureiben. Vergebens. Mein Spiegelbild verschwimmt leicht als mir Tränen in die Augen steigen. Energisch blinzle ich sie fort. „Was hat er getan?", ich zucke zusammen als ich seine Stimme höre und blicke ihm im Spiegel entgegen. Wieso habe ich nicht gemerkt, dass er gekommen war? „Lass mich in Ruhe.", sage ich kraftlos und schließe die Augen. „Verschwinde.", schiebe ich nach einigen Sekunden hinterher und muss ein Schluchzen unterdrücken. „Das würde ich ja, aber du hast die Kontrolle verloren, Mary", wispert David kaum hörbar, woraufhin mir nun doch ein Schluchzen entweicht und ich meinen Blick abwende. Tränen benetzen meine Wangen und ich traue mich nicht ihn anzusehen, als ich begreife, dass er recht hat. Es ist alles zu viel. Gänsehaut überzieht meine Arme und mein Körper beginnt leicht zu zittern. Verzweifelt schlinge ich die Arme um mich. Wieso bin ich so, warum reagiere ich so? Luke hat mich nur geküsst, mehr ist nicht passiert. Und doch fühle ich mich furchtbar. „Was hat er gemacht, Mary", fragt David noch einmal nachdrücklicher und ich verdrehe die Augen. Nun schaue ich ihn doch wieder an, jedoch immer noch ohne mich zu ihm umzudrehen. „Geh. Weg.", wiederhole ich meine Bitte. „Geh. Weg", schreie ich noch einmal, wende mich blitzschnell zu ihm um und schlage mit geballten Fäusten auf ihn ein. Er lässt es einfach so über sich ergehen und das macht alles nur noch viel schlimmer. Ich schreie, zumindest möchte ich das, aber meiner Kehle entweicht kein Ton. Meine Tränen verschleiern mir die Sicht, so muss es sich anfühlen blind vor Wut zu sein. Dabei weiß ich im Grunde gar nicht auf wen ich wütender bin: Auf Luke und David oder auf mich selbst. „Hör auf Mary", sagt David ruhig und greift im gleichen Moment nach meinen Handgelenken. Verzweifelt sehe ich ihn an, direkt in seine braunen Augen. „Was willst du nur von mir?", wispere ich und entziehe ihm meine Hände. Erschöpft und nicht fähig heute noch irgendetwas zu tun, zwänge ich mich an ihm vorbei durch die Tür. Dabei streifen sich unsere Arme und ein wohliges Gefühl erfüllt meinen Körper. Als ich über den Flur laufe hallt jeder meiner Schritte an den Wänden wider. Mein rotes Kleid stellt einen schönen Kontrast zu den weißen Fliesen und grauen Spinden dar, doch ich bin nicht in der Lage mich daran zu erfreuen. Ich höre wie jemand zweites auf den Flur tritt und vermute, dass es sich dabei um David handelt, doch ich schaue nicht nach. Es ist mir egal. Gerade ist mir einfach alles egal. Ich will nur noch in mein Bett. Und als ich eine leise Stimme durch den Flur hallen höre, bin ich froh, dass ich kein einziges Wort verstehe.

Anima - Blick in meine SeeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt