Kapitel 8 - Henry

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Ich sah Lynn schon, als sie am Ende des Ganges die große Flurtür öffnete.
Gedankenversunken kam sie näher, doch sie hatte mich noch immer nicht entdeckt.
Gerade wollte ich mich bemerkbar machen, da brach sie zusammen.

Ich rannte zu ihr hin, ließ meinen Rucksack fallen und trug sie in den Klassenraum, in dem Herr Reckmann schon wartete. Als er Lynn sah, befahl er mir, sie nach draußen zu bringen und rief den Notarzt. Draußen setzte ich mich auf den Bordstein und versuchte zu erkennen, was mit ihr los war. Sie war kreidebleich, vom Aufprall auf dem harten Boden hatte sie einen Platzwunde an der Schläfe, aus der Blut lief. Sie atmete noch, doch ihr Puls war langsam...
Zu langsam, wie die Ärzte Minuten später feststellten, als sie sie untersuchten. Lynn wurde an vielen Schläuchen an Maschinen angeschlossen, und kurz darauf verließ der Krankenwagen mit Blaulicht den Schulhof.

Was war mit ihr passiert? Was war nur los? Was hatte sie so urplötzlich zu Boden fallen lassen? Fragen über Fragen wirbelten durch meinen Kopf, als ich hilflos dem Krankenwagen hinterhersah. Was wenn...? Nein, nicht daran denken, nur nicht daran denken. Aber wenn...dann würde die Frau, die ich liebte, diese Welt im Glauben verlassen, ich sei ein komplettes Arschloch und würde mir nichts aus ihr machen...

" Den Flur entlang, mit dem zweiten Aufzug auf der rechten Seite in die 3. Etage fahren, dann geradeaus und die zweite Tür links, eine schöne Besuchszeit, auf Wiedersehen. "

Als ich endlich Lynns Zimmertür gefunden hatte traf ich davor ihren Vater.
"Ach hallo Henry" begrüßte er mich sichtlich übermüdet.
" Hallo Herr Classen, wie geht es ihr? Es tut mir leid, dass ich erst jetzt kommen konnte."
2 Tage war ihr Zusammenbruch jetzt her, doch ich hatte mich noch nicht getraut zu ihr zu gehen. Ich war mir nicht sicher, ob ich es ertragen würde, sie so zu sehen.
Auch sonst, hatte ich keine Ahnung wie es um sie stand oder was der Auslöser für den Zwischenfall gewesen war.

"Die Ärzte mit den Ergebnissen der Untersuchungen müssten gleich kommen, du kannst gerne reingehen und selbst schauen, wie es ihr geht. Sie liegt momentan noch im künstlichen Koma, aus dem sie voraussichtlich in 4 Tagen wieder geholt wird. Es ist irgendwas mit ihrem Herzen." Herr Classen ließ sich besorgt und erschöpft in einen Sessel fallen.
Noch leicht geschockt von seinen Worten, öffnete ich die Zimmertür, doch was ich sah, ließ mich nicht unbedingt besser fühlen. Sie lag da, wunderschön wie immer, aber die ganzen Schläuche, die ihr über den kompletten Oberkörper hingen, zerstörten den Anblick.
"Lynny, bitte komm zurück, lass mich nicht allein, bitte ..." begann ich, doch dann kam ein Haufen Ärzte in weißen Kitteln in den Raum und fing an zur reden.
"Also, der Auslöser der plötzlich Ohnmacht war ihr Herz. Sind bei ihnen schon jegliche Herzprobleme in der Familie vorgekommen?" fragte der nett aussehende Oberarzt, an Lynns Vater gerichtet. Als dieser den Kopf schüttelte, fuhr der Arzt fort.
"Das ist merkwürdig. Bei dieser Patientin haben wir nämlich einen äußerst seltenen Fall einer Unterfunktion der Hauptherzklappe.
Ich will ehrlich sein, die Möglichkeit besteht, dass sie nicht wieder aufwacht, aber wenn, dann wird sie sich von ihrem Anfall erholen, und wenn sie dann auch noch in Zukunft die richtigen Medikamente nimmt, wird sie nur noch selten etwas von ihrem kaputten Herzen zu spüren bekommen.
Auf ungefähr eine ungefährliche Ohnmacht innerhalb von 1-2 Monaten müssten sie sich allerdings einstellen.
Achja, und die gravierendste Veränderung werden wir leider erst feststellen können, wenn die Patientin nicht mehr künstlich ernährt wird, heißt, wenn sie aufgewacht ist.
Die Nebenwirkungen einer Krankheit dieser Art sind immer unterschiedlich. Manchmal passieren Lähmungen, oft gibt es Probleme bei alltäglichen Dingen wie Laufen oder Sprechen. Manche verlieren Teile ihres Gehirns, andere ihre Sehkraft. Es tut mir wirklich leid, wir sehen uns dann in 4 Tagen, auf Wiedersehen."

Wieso? Wieso musste das ausgerechnet jetzt passieren?
Gerade jetzt, wo Lynn mir gerade wieder neue Hoffnung und Kraft gegeben hatte.
Sie war so wundervoll. Mit ihr war es, als hätte ich eine kurze Pause von meinem normalen stressigen Alltag. Mit ihr war alles gut.
Aber jetzt, wusste ich nicht wie es ihr ging, ich wusste nicht, ob sie jemals wieder aufwachen würde, ich wusste nichts.
Und diese Ungewissheit brachte mich fast um. In einem Punkt war ich jedoch sicher :
Wenn ich sie nie wieder lächeln sehen würde, hätte auch mein Leben keinen Sinn mehr.

Bitte, lieber Gott, lass alles wieder gut werden, lass sie wieder aufwachen.

Stolperherz ❤Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt