Kapitel 6 - Henry

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" Nur noch eine Woche " seufzte sie und schaute traurig auf das Meer hinaus. Wir saßen da, in einer Wolldecke eingewickelt, denn heute Abend war es ein wenig kühler, als die Tage davor. Sie beobachtete die Wellen und ich beobachtete sie. Ihre welligen Haare wehten leicht im Wind, ihre Lippen waren voll und rosa. Und ihre zarten Hände drückten die Decke an sich.
Sie war so wunderschön.
Wie hatte ich das nur all die Jahre übersehen können? Und nicht nur das, in der letzten Woche hatte sie mir nicht die zickige Tussi gezeigt, sondern eine so liebenswerte, zarte und tolle Frau. Wenn sie mich mit ihren so besonderen, verschiedenfarbigen Augen ansah, vergaß ich alles um mich herum. Ihre Augen gaben mir Kraft. Grün und Braun. Und beides mit einem Grauschimmer, der ihre Augen so einzigartig machte. Noch nie hatte ich so wunderschöne, einzigartige Augen gesehen.
Wenn sie mich ansah, dann hatte ich wieder Hoffnung, trotz Allem, was in den letzten Jahren passiert war.
Und wenn wir zusammen in der Felsenbucht saßen, glaubte ich wieder an etwas.
An die Liebe.

"Warum?" fragte sie plötzlich und schaute mir tief in die Augen. Ich konnte dieser Art, wie sie mich anschaute, nicht standhalten, ohne eine ehrlich Antwort zu geben, also wich ich ihrem Blick aus und sagte : " Was meinst du ? " Im Augenwinkel bemerkte ich, wie verletzt sie war, doch sie ging nicht weg. "Du weißt ganz genau, was ich meine, Henry" kam ihre Antwort.
Ja, das wusste ich. Sie wollte wissen, warum ich diese ganzen Weiber innerlich zerstört hatte, und warum ich sie, also Lynn, angelogen habe, als ich gesagt habe, dass dieser Mist mit den Konflikten meiner Eltern zusammen hing.
Sie hatte als Einzige gemerkt, dass mich noch etwas ganz anderes fertig machte, etwas, dass vor langer Zeit geschehen war, aber dennoch konnte ich es ihr nicht sagen.

Am nächsten Tag, einem Montag, war Lynn unfreundlich und abweisend zu mir.
Sind eigentlich alle Frauen so sexy, wenn sie einen keines Blickes würdigen ?
Wir waren mal wieder am Strand, doch sie wollte weder ins Wasser, noch Beachball mit mir spielen.
Und ich konnte sie verstehen, ich war mindestens genauso wütend gewesen, als sie mich nach ihrem Alptraum so mies behandelt hatte. Wahrscheinlich wäre sie noch gemeiner geworden, hätte ich ihr erzählt, dass sie im Schlaf fast durchgehend meinen Namen gemurmelt hatte.
Ich wusste nicht, ob mich dass freuen oder traurig machen sollte, denn sie hatte zwar offensichtlich von mir geträumt, jedoch, war es schließlich ein Alptraum gewesen.

Irgendwann konnte ich es nicht mehr aushalten von ihr ignoriert zu werden, also schnappte ich sie mir, hob sie hoch, und trug sie zu unserem Geheimversteck.
Und sie ließ es einfach geschehen.
So nah war ich ihr noch nie gekommen, doch jetzt, wo sie nur im Bikini, an meine nackte Brust gelehnt, in meinen Armen lag, genoss ich den Körperkontakt.
Behutsam brachte ich sie zu unserer 'Aussichtsplattform'.
Ohne sie los zu lassen, setzte ich mich hin und wickelte die Decke, die hier noch von gestern lag, um sie.

"Es war vor ungefähr 4 Jahren. Mein Opa und ich, wir standen uns sehr nahe, ich habe mit ihm über alles geredet, konnte mit Problemen immer zu ihm kommen und er hat mir immer geholfen.
Auch er hat mir oft von seinem Leben erzählt, besonders viel von seiner Frau, Ella.
Ella war nicht meine leibliche Oma, ich konnte mit ihr auch nicht besonders viel anfangen, doch mein Großvater hat sie abgöttisch geliebt...
Und dann hat er sie mit ihrem Ex-Mann erwischt. Die beiden hatten über Jahre eine Affäre.
Mein Opa war am Ende, ich hatte ihn noch nie so zerstört gesehen. Für mich war das kaum erträglich meinen sonst so starken Opa so am Boden sehen zu müssen.

An dem Abend, als es passiert ist, war ich mit ihm Segeln gewesen. Wir hatten zusammen Fisch zu Abend gegessen und dann noch einen Film geschaut. Dann am nächsten Morgen bin ich ganz normal aufgestanden, doch ich habe gespürt, dass etwas anders war, als sonst. Es war still, ganz still. Sonst hatte Opa mich jeden Morgen mit lauten Motorsägengeräuschen aus dem Schlaf geholt.
Ich bin also ins Wohnzimmer gegangen, und da habe ich ihn gesehen.
Er hat sich erhängt, Lynny, er hat sich erhängt, und ich war dabei."

Noch während ich davon erzählte, rann eine Träne meine Wange hinunter.
" Und dann habe ich angefangen, Gefühle zu verabscheuen. Ich wollte einfach nicht verletzt werden, so wie er, verstehst du? "

Lynn richtete sich in meinen Armen auf, und sah mich an. In ihren Augen schimmerten Tränen.
"Ja" flüsterte sie, legte ihre Arme um meinen Hals und umarmte mich fest.
Ich erwidere die Umarmung und so saßen wir da minutenlang.

Die letzten Tage mit ihr auf Tunesien waren wunderschön, ich war noch nie so glücklich gewesen. Was auch immer wir machten, mit ihr war es gut. Lynn machte mein Leben lebenswert, sie hatte mich gerettet.

Am vorletzten Abend waren wir alle zusammen fürs Restaurant verabredet.
Lynn und ich waren den ganzen Tag zu zweit unterwegs gewesen, dann hatte sich Lynn ins Badezimmer verabschiedet, um sich fertig zu machen. Als sie weg war, zog ich mir Anzug, Krawatte und Hemd an, und machte meine Haare. Dann wartete ich auf sie.
Als nach einer halben Stunde immer noch keine Lynn aufgetaucht war, ging ich nach draußen in den Garten, um nach ihr zu suchen. Noch bevor ich anfangen konnte, mir ernsthaft Sorgen zu machen, sah ich sie.
Sie saß auf der Mauer, auf der wir uns zum ersten Mal richtig unterhalten hatten.
Bei dem Gedanken daran, musste ich lächeln.
Ich machte mich auf den Weg zu ihr, doch noch bevor ich bei ihr war, hörte ich sie.
Sie sang. Und das so wunderschön.
Leise rief sie die Worte in die Nacht hinein.
"But I'm only human, and i break and I fall down. You're words in my head, knifes in my heart. You build me up, and then I fall apart..."
Ganz benommen hörte ich ihr zu, doch plötzlich drehte sie sich um und sah mir direkt in die Augen. Ich musste grinsen, es war ihr sichtlich peinlich.
Sie sprang von der Mauer und kam zu mir.

Oh Gott, Wow. Ich war sprachlos.
Noch nie hatte ich so einen schönen Anblick genießen dürfen.
Sie trug ein langärmliges, schwarzes Kleid, was bis zur Taille eng anlag, und dann weit wurde.
Es war relativ kurz, doch der Ausschnitt war nicht weit. Ihre Haare hingen ihr wild über die Schultern und außer silbernen Ohrringsteckern trug sie keinen Schmuck.
Ihre Fuß - und Fingernägel waren silber glitzernd lackiert, und an den Füßen trug sie schwarze, flache Zehentrennersandalen.

Verunsichert durch meine Blicke sah sie mich an. " Wäre das grüne Maxikleid besser gewesen? " Unglücklich zupfte sie an dem Stoff.
Ich nahm ihr Kinn in meine Hand und drehte ihren Kopf zu mir hoch. Ich war ungefähr anderthalb Köpfe größer als sie. " Du siehst unendlich schön aus ja? "
Erstaunt sah sie mich mit großen Augen an. Wir standen jetzt ganz dicht beieinander, sie hatte eine Hand auf meine Brust gelegt, die andere lag an meinem Hals.
Mein Puls raste und ich hatte Angst, sie könnte mein Herzklopfen spüren.
Wir kamen uns immer näher und dann-

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