Chapter Eleven

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Liebes Tagebuch,

Der erste Kuss. Einer der größten Ereignisse eines jeden Mädchens.

Meine Lippen waren ungeküsst. Bis zu dem Tag, an dem ich Kyle O'Connor kennenlernte. Langsam hatten sich seine Lippen auf meine gedrückt. Es war ein Traum, aus dem ich nicht erwachen wollte. Seine Lippen auf meinen waren so weich. Er fuhr mit seiner Hand durch mein Haar und zog mich eng an sich, als er langsam begann, seine Lippen zu bewegen. Das erste Mal - ich rede viel zu oft von ersten Malen - seit Liams Tod hatte ich das Gefühl, Liebe für eine andere Person zu empfinden.

Und das war schließlich mein Fehler. Zu sehr in Gedanken und Erinnerungen zu verschwimmen. Denn mit einem Mal kamen mir die Tränen, meine Gefühle waren so chaotisch. Ich hatte das Gefühl zu ertrinken. Also riss ich mich los und rannte weg. Ich ließ Kyle an Ort und Stelle stehen und schloss mich in meinem Zimmer ein. Seine Rufe und SMS' ignorierte ich.

Ich war gefallen. Endgültig. Es half mir nicht, dass Kyle mein einziger Anker war.

Es reichte nicht.

Mein Herz brach mit jeder weiteren Sekunde. Mehr, als ich es für möglich gehalten hatte.
Und ich frage mich, wie schwer kann ein Herz brechen, bis es nicht mehr zu heilen ist.

In Liebe, Lola

Schweratmend öffnete ich meine Augen und konzentrierte mich auf das warme Wasser, das mein Gesicht hinabprasselte. Es waren drei Tage vergangen. Meine Eltern waren inzwischen wieder zuhause und doch waren sie nicht bei mir. Sie arbeiteten. Wenn nicht im Büro, dann in der Küche oder in ihrem Arbeitszimmer. Ihr Blick war auf ihre Akten und Bildschirme fokussiert. Und es hätte mich nicht stören dürfen, denn ich kannte es nicht anders. Aber in diesem Moment hätte ich meine Eltern gebraucht.

Kyle ignorierte ich. Ich beobachtete ihn immer wieder heimlich in der Schule, wie er vor dem ersten Läuten der Schulklingel mit seinen Freunden in der Ecke des Parkplatzes stand und rauchte, aber auch in den Mittagspausen in denen er lachte und im Unterricht - wenn sich mir die Gelegenheit bot. Ich war verwirrt. Denn obwohl ich ihn immer aus einem Augenblick heraus beobachtete, hatte ich das Gefühl, dass seine braunen Augen meinen Blick einfingen und festhielten.

Den Fragen von Lisa wich ich aus. Wieso ich nicht mehr mit Kyle zur Schule fuhr. Ob er etwas getan hatte. Ob alles in Ordnung wäre. Ich wollte diese Fragen nicht beantworten. Denn ich wusste die Antworten nicht.

Ich blieb stumm und für mich.

Kyle traf keine Schuld, ich hatte es allein zerstört. Dabei war mir nicht im Geringsten bewusst, was ich zerstört hatte. Ich wusste nur, dass mir etwas fehlte.

Ich wusch mein Gesicht und fuhr mir mit beiden Händen das Haar zurück, bevor ich aus der Dusche stieg und mich in ein Handtuch einwickelte. Das Wasser, welches meine Haut umhüllte, perlte von meiner Haut und tropfte auf den Boden. Den Spiegel mied ich. Ich fühlte mich unwohl, mein Spiegelbild zu betrachten.

Ich verließ das Badezimmer und erschrak, als ich Kyle auf meinem Bett sitzen sah. Er schaute mich stumm an. Kein Lächeln. Kein alltägliches Grinsen. Ich erinnerte mich an das letzte Mal, als er einfach auf meinem Bett saß. Seit diesem Tag schloss ich, sobald ich für längere Zeiten im Badezimmer war, die Balkontür.

„Wie bist du reingekommen?" Einzelne Tropfen lösten sich von meinem Haar und rannen mein Rücken entlang. Ich tropfte den Fußboden voll, bewegte mich jedoch keinen Zentimeter. „Deine Mom hat mich reingelassen."

Ich nickte. Mir war die gesamte Situation so unangenehm, was nicht zuletzt an meiner spärlichen Kleidung lag. Aber viel mehr an mein Verhalten.

„Es tut mir leid." Die Worte sprudelten ungehalten aus meinem Mund und ich rückte das Handtuch zurecht. „Ich - war einfach überfordert." Die Pfütze um mich herum war größer geworden. Ich machte einen Schritt nach vorne. War ein Schritt näher bei Kyle, der sich nun von meinem Bett erhob und mich mit einem undefinierbaren Blick ansah.

Für ihn war es vermutlich nichts Besonderes. Er hatte schon Mädchen geküsst. Er war viel weiter in diesen Dingen, als ich es war.

„Aber das entschuldigt nicht mein Verhalten", merkte ich weiter an und schaute auf den Boden. Ich wollte mir am liebsten meine frische Kleidung schnappen, anziehen und wegrennen. Weit weg. Zu Liam.

„Vergiss den Kuss einfach, okay?" Es knackste und ein Schmerz durchflutete mein Herz. Ich sollte den Kuss, meinen ersten Kuss, einfach vergessen? Es gab keine Minute, in der meine Gedanken nicht zu seinen Lippen wanderten. Es war ein kurzer, aber intensiver Kuss. Er hatte meine Sinne benebelt. Es hatte in diesem Moment nur Kyle und mich gegeben.

Gekränkt nickte ich und blickte zur Seite.
„Ich muss mich für die Schule fertig machen."

Mit meinem Blick deutete ich auf die Uhr, die auf einem Regal platziert war, und wandte mich ohne weitere Worte an Kyle, meinem Kleiderschrank zu. Ungeschickt fischte ich mir ein langärmeliges Shirt und eine Jeans aus dem Kleiderschrank. Als ich in meiner Schublade nach der Unterwäsche greifen wollte, drehte ich mich zu Kyle rum und verzog mein Gesicht.

„Drehst du dich bitte weg?"

Verwirrt schaute er mich und dann die Kleidung in meiner Hand an.

„Ich hatte nicht vor, dir beim Anziehen zuzuschauen."

Entgeistert riss ich meine Augen auf und warf das Oberteil in die Richtung von Kyle.

„O Gott, nein. Ich möchte nur nicht, dass du meine Unterwäsche zu Gesicht bekommst." Scham stieg in mir auf und ich nahm mir schnell die restliche Kleidung und wollte ins Badezimmer verschwinden, als Kyle sich vor mich stellte und grinste.

„Ich hätte wirklich nichts gegen einen Blick. Aber ich bin ein Gentleman."

Er hielt mir mein Oberteil entgegen. Zögernd nahm ich es und quetschte es auf den Stapel unter meinem linken Arm.

„Ich warte auf dich." Und dann gab er mir einen kleinen Schubser in Richtung des Badezimmers und schloss die Tür hinter mir. Perplex begann ich mir die Haare zu föhnen und meine Kleidung anzuziehen.

Mein Herz pumpte unaufhörlich das Blut durch meine Venen bei dem Gedanken, dass Kyle nur wenige Meter, eine einzige Tür weiter, auf mich wartete.

Ich hatte den Drang, mich für ihn hübscher zu machen. Also kramte ich entschlossen meine Mascara, Rouge und Lippenstift aus dem länglichen Schrank neben dem Spiegel. Vorsichtig, mir die Bürste nicht ins Auge zu stechen, tuschte ich meine Wimpern. Etwas Rouge und zuletzt nahm ich den Lippenstift zur Hand.

Meine Haare band ich zu einem hohen Zopf und zufrieden betrachtete ich mich im Spiegel, als es an der weißen Tür klopfte.

„Alles in Ordnung? Wir müssen los."

Mit einem Schwung öffnete ich die Tür und stolperte in die Arme von Kyle, der sich am Türrahmen angelehnt hatte. „Tut mir leid." Ich wusste nicht einmal für was ich mich entschuldigte, doch Kyle nahm meine Worte gar nicht wahr. Er blickte mich stumm an. Sein Blick wanderte meinen gesamten Körper rauf und runter, bevor er sich fing. „Wir müssen los."

Es waren erst drei Tage und trotzdem war es komisch, wieder in seinem Auto zu sitzen und gemeinsam mit ihm zur Schule zu fahren.

Die Fahrt verlief stillschweigend, bis Kyle das Wort ergriff und mir damit zum zweiten Mal an diesem Morgen mit einem Messer ins Herz stach.

„Wir sollten einfach nur Freunde bleiben." Das Messer drehte sich in meiner Brust.

„Du bist einfach ein Wahnsinnsmädchen", sprach er weiter. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er gerade eine Rede hielt.

Es liegt nicht an dir. Vielmehr an mir.

„Und ich möchte unsere Freundschaft nicht riskieren. Verstehst du das?"

Natürlich verstand ich es. Ich war nicht begriffsstutzig. Jedoch verinnerlichte ich die Bedeutung seiner Worte nur langsam. In mir sprangen meine Emotionen hin und her. Das war es doch. Ich hatte doch nichts anderes gewollt, oder?

„Ja, das sehe ich genauso." Nein, so sah ich es nicht.

Auf dem großen Parkplatz vor der Schule drehte ich mich noch einmal mit einem gezwungenen Lächeln in Kyle seine Richtung.

„Danke für's Mitnehmen."

Hätte ich an diesem Morgen gewusst, wie mein Nachmittag sich gestalten würde, wäre ich niemals aus diesem Auto gestiegen. Doch ich wusste nicht, wie es kommen würde. Und so drückte ich die Klinke runter und verabschiedete mich, bevor ich ohne zurückzuschauen, in die Schule lief.

Liebes Tagebuch || #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt