Chapter Nineteen

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Liebes Tagebuch,

wie sehr kann man sich in einem Menschen täuschen?

In diesem Moment fehlen mir jegliche Worte, um es zu beschreiben. Ich habe die Antwort vor Augen und doch kann ich sie nicht laut aussprechen. Nicht einmal aufschreiben.

Ein Mensch hat mehr als ein Gesicht. Das ist mir bewusst. Niemand gibt sich ohne Kompromisse als eine Person aus, die sie nicht ist. Es ist einfach ein Selbstschutz, vielleicht ein Reflex. Ich habe auch nicht immer die Wahrheit gesagt. Ich habe oft gelächelt, wenn ich innerlich weinte und stumm zugesehen, obwohl ich schreien wollte.

Ich kann mich also nicht aus der Verantwortung ziehen. Doch ich verstehe es nicht, wieso Kyle mir das Gefühl von Wärme geschenkt hat, obwohl er allen Anschein keinen Funken mir gegenüber verspürt.

Vielleicht war es reiner Selbstschutz. Wie es oftmals der Fall ist. Vielleicht habe ich die Mauer durchbrochen und bin zu weit gegangen, weswegen er mir nun ausweicht.

Vielleicht war das aber alles auch nur ein Spiel. Ein Spaß für zwischendurch, um tatsächlich seine Freunde zu beeindrucken.

In Liebe, Lola

Das Wochenende war vorbei und die Schule begrüßte mich am Montagmorgen mit offenen Armen. Ich wandte mich mehr als unwohl in ihnen, aber ließ mir meine gute Stimmung nicht nehmen. Ich war glücklich. Trotz dem Montag, trotz Schule und trotz des schlechten Wetters.

Vor dem Eingang standen Lisa und Sam. Milly war dem Anschein nach noch immer krank und ich nahm mir fest vor, ihr nachher zu schreiben. „Hey", kam es von uns allen dreien gleichzeitig, sodass wir zu lachen begannen.

Ich zog die Riemen meines Rucksackes enger und lauschte dem Gespräch der beiden, was ich zuvor anscheinend unterbrochen hatte.
„Du hast wirklich etwas verpasst." Auf Sams Gesicht war ein Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte.

„Ach ja?" Es war schön zu sehen, wie glücklich sie strahlte, und ich konnte nicht anders, als ebenfalls zu grinsen.

„Ich habe Anthony geküsst." Sie flüsterte die Worte, sodass ich sie kaum wahrnahm und sah sich wie ein Spion auf einer Mission um.

„Wirklich?" Begeistert sah ich sie an. „Das freut mich unheimlich." Und das war weder geschleimt noch ironisch. Ich freute mich für sie. Lisa begann den Rest der Party ausführlich zu erläutern, sodass ich nicht hinterherkam, um auf einzelne Punkte des Abends einzugehen.

Schließlich übernahm Sam wieder das Wort. „Wie war dein Wochenende?" Neugierig lagen die Blicke beider auf mir und kurz überlegte ich, wie sich das Wochenende zusammenfassen ließ. Ich hatte einen Nervenzusammenbruch, meine Eltern waren bis auf ungewisse Zeit nicht mehr meine Eltern, ich war für einen Tag in Miami - wobei Kyle für mich die Flüge bezahlt hatte - und hatte das Grab meines Bruders besucht, während ich in der Nacht mit Jacob gemeinsam den Kühlschrank geplündert hatte.

„Es war aufregend." Ich war froh, dass es in diesem Moment zum Beginn des Unterrichts klingelte.

„Das freut mich", zwitscherte Lisa, bevor wir uns in das Gedränge begaben.

„Kommt noch einer schnell mit mir zum Spind?" Ich hatte völlig vergessen, meine Bücher aus dem Spind zu holen, und war erleichtert, als beide kurzerhand nickten. Es war nicht so, dass ich nicht in der Lage war, allein zu meinem Spind zu laufen. Aber heute hatte ich das Bedürfnis, keine Minute allein zu sein. Ich spürte eine so große Zufriedenheit, dass ich einfach nur mit meinen Freundinnen Zeit verbringen wollte.

Kurz vor meinem Spind, an der Ecke, tummelten sich ein paar Jungs. Relativ schnell wurde mir bewusst, dass es Kyles Freunde waren. Zwischen ihnen standen einige Mädchen. Ich streckte mich etwas aus, um zu schauen, ob Kyle vielleicht bei ihnen war, und als ich ihn schließlich fand, stockte mir der Atem. Mein Herz zog sich zusammen und ich hatte das Gefühl, mich nicht mehr aufrechthalten zu können. Er hatte sich mit einer Hand an der Wand abgestützt, während seine andere Hand an der Hüfte eines blonden Mädchens lag. Seine Lippen waren auf ihre gepresst. Die Hand des Mädchens lag auf seiner Brust. Ich wollte meine Füße in die Hände nehmen und wegrennen, doch wie erstarrt konnte ich meinen Blick nicht abwenden. Ich kniff die Augen zusammen und öffnete sie, um zu schauen, ob ich mich getäuscht hatte. Doch das Bild, welches sich mir bot, brannte sich noch mehr ein.

Liebes Tagebuch || #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt