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Ichhatte eigentlich vor gehabt, meinen restlichen freien Nachmittag stressfrei zu Hause rumzugammeln, auf dem Sofa zu sitzen, etwas zu lesen und ein Glas kalter Limo nach der nächsten in mich rein zu kippen. Aus diesem Plan wird nichts.

Ich stehe zu Hause im Wohnzimmer und schaue gedankenverloren aus dem Fenster.

Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie er zu mir aufschaut, ganz flüchtig.

Ich setze mich auf den Sessel.

Wie er da steht.

Ich stehe wieder auf, gehe zum Kühlschrank, inspiziere den Inhalt, und schließe die Tür wieder, ohne etwas heraus genommen zu haben.

Ich sehe sein Gesicht genau vor mir. Jede einzelne Kontur.

Ich gehe hoch in mein Zimmer und lasse mich mit ausgebreiteten Armen auf mein Bett plumpsen.

Der Moment, in dem ich hochschaue, und ihn zum ersten Mal sehe. Und er mich sieht.

Ich stehe erneut auf. Gehe auch in meinem Zimmer zum Fenster, schaue raus.

Er lässt mich einfach nicht los.

Ich gehe wieder runter. Ich kann nicht still sitzen. Irgendetwas muss ich tun, ich brauche Bewegung! In meinem Kopf rotieren immer und immer wieder die gleichen Bilder, wie kann ich da ruhig bleiben?

Ich muss raus! Schnell wieder in die Schuhe, die ich doch eben erst ausgezogen habe, den Haustürschlüssel in die Hosentasche meiner Jeans gestopft und auf geht's!

Sobald ich das Haus verlasse, knallt mir die Hitze wieder entgegen. Aber dieser Mal macht es mir nichts. Heute Morgen hätte ich noch alles getan, um den Aufenthalt draußen in der glühenden Sonne zu meiden, jetzt brauche ich es unbedingt. Wie in einem Toaster fühlt es sich an, als ich auch noch aus dem letzten bisschen schützenden Schatten hinaus trete und mich der Sonne voll und ganz ausliefere. Es ist mir egal.

Ich biege sobald es geht auf einen Feldweg ab und verlasse die Straße. Was ich jetzt nicht gebrauchen kann, sind Menschen. Mit Grauen muss ich kurz daran denken, wie es wohl wäre, jetzt irgendwelchen Nachbarn zu begegnen und mich ihrem SmallTalk stellen zu müssen. Dann wird der Gedanke auch schon wieder verdrängt von dem Gedankenkarussel, in welches ich heute gerutscht bin.

Ich habe keine Ahnung, was mit mir los ist. Etwas derartiges habe ich noch nie erlebt! Was ist bloß los mit mir? Bin ich krank? Was mache ich, wenn das nie wieder weg geht? Was kann ich dagegen tun? Und was mache ich, wenn es jemand bemerkt? Meine Eltern oder Lou, mit Sicherheit wird ihnen irgendwas auffallen, mein Zustand kann doch nicht unbemerkt bleiben!

Wieder schweifen meine Gedanken ab zu ihm und verlieren sich in immer derselben Gedankenschleife.

Während meine Gedanken mich eingenommen haben, ich in ihnen ertrinke, immer tiefer versinke, tragen mich meine Füße Schritt für Schritt immer weiter. Ich kann nicht aufhören an ihn zu denken, und ich kann nicht aufhören, zu gehen. Da ist etwas in mir, das mich zu beidem immer weiter antreibt, ich kann nicht stehen bleiben. Als hätte ich keine Kontrolle mehr über meine Beine. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ich bald schon die Kontrolle über meinen gesamten Körper verloren hätte.

Schritt für Schritt, Meter für Meter, lege ich zurück, immer weiter in der sengenden Sonne, mit den Gedanken nur bei ihm. Ich habe keine Ahnung, wer er ist.

Irgendwann werden meine Beine langsam schwerer, und auch in meinem Kopf rotieren die Bilder nun etwas langsamer. Es ist Zeit, sich auf den Rückweg zu machen. Mit einem Blick auf die Uhr stelle ich fest, dass ich schon einige Stunde unterwegs bin, und dass es bald Abendessen gibt.

Zu Hause angekommen steht Mama schon am Herd und brutzelt etwas, das vermutlich unglaublich gut riecht. Meine Nase allerdings kann den Geruch kaum wahrnehmen, mein Denken wird immer noch von anderen Dingen überlagert.

"Hallo, Schatz. Wo warst du denn die ganze Zeit? ,begrüßt sie mich.

Okay, Lilly, reiß sich zusammen. Tu so, als wäre nichts passiert. Es ist ja im Grunde auch nichts passiert.

"Äh, ich war nur, äh, nur draußen ein bisschen spazieren" ,stottere ich und bewege mich unauffällig Richtung Treppe. Vielleicht bin ich einem Gespräch doch noch nicht gewachsen.

"Jedenfalls ist es gut, das du jetzt da bist, in ein paar Minuten gibt es Essen. Deck doch bitte schon mal den Tisch".

Meine Mutter steht nachwievor mit dem Rücken zu mir. Ich versuche, mich durch bewusstes ein- und ausatmen auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Aber als ich die Teller aus dem Schrank hole, bin ich schon wieder abgedriftet.

Das Essen ist fertig, Papa kommt aus dem Wohnzimmer und wir setzen uns alle an den Tisch.

Scheinbar sieht Mama mich gerade erst wirklich, denn plötzlich sagt sie: "Du meine Güte, Elisa, du bist ja ganz rot! Wo warst du denn den ganzen  Nachmittag? Etwa in der Sonne? Hast du dich nicht eingecremt?".

Auch Papa schaut mich jetzt an. "Birgit, du musst das Kind doch eincremen! Du weißt doch, dass die Sonne gefährlich ist!"

Gut, dass wir alleine sind, denn es ist mir einfach ungeheuer peinlich. Erst jetzt bemerke ich, wie heiß und gespannt sich mein Gesicht anfühlt, und auch meine Arme strahlen Wärme aus. Wie konnte ich das bis jetzt nur nicht bemerkt haben?

"Nach dem Essen schmieren wir direkt Quark drauf, dann wird der Sonnenbrand ganz schnell wieder weg sein" ,schließt Mama die Diskussion mit Papa, und die beiden widmen sich normalen Themen zu. Sätze fliegen über den Tisch wie Bälle, die zurück gepasst werden sollen. Sie versuchen, mich wie immer ins Gespräch mit einzubinden. Ich weiß nicht, was ich antworte. Wahrscheinlich einfach irgendetwas.

"Wie war dein Tag heute, Schatz?", "Erinnerst du mich bitte gleich daran, dass ich noch die Blumen gießen wollte?", "Hm, das Essen schmeckt aber lecker".

Für sie ist alles wie immer. Bei mir ist irgendwie nichts mehr wie vorher.

"Elisa, geht es dir nicht gut?" ,fragt Papa irgendwann.

Völlig aus meinen Gedanken gerissen schaue ich ihn an.

"Bitte?"

"Ob es dir nicht gut geht, du bist so schweigsam!".

Also bin ich doch aufgefallen.

"Wahrscheinlich die Sonne, vielleicht hat sie sich einen leichten Sonnenstich gefangen. Das darf man nicht unterschätzen! Schatz, ist dir schwindelig oder übel?"

ich schüttele den Kopf.

"Nein, ich bin nur ein wenig müde. Wahrscheinlich wirklich nur ein bisschen viel Sonne. Aber nicht schlimm" ,rede ich mich raus.

"Dann solltest du jetzt noch viel trinken, wahrscheinlich bist du auch einfach nur ein bisschen dehydriert" ,mutmaßt Mama und schenkt mir direkt noch ein Glas Wasser ein, das ich dann auch gehorsam direkt ansetze und in einem Zug austrinke.

"Wenn wir dich gleich mit dem Quark versorgt haben, legst du dich am besten direkt ins Bett und schläfst. Nimm dir noch eine Flasche Wasser mit hoch, viel trinken ist wichtig, denk daran. Und morgen geht's dir bestimmt direkt schon viel besser".

Ich nicke.

Das restliche Abendessen lassen sie mich dann zufrieden.

Als wir alles weggeräumt haben und die Spülmaschine vor sich hinbrummt, kramt Mama eine Packung Quark aus dem Kühlschrank und öffnet sie.

Es ist mir unangenehm, dass sie mir das Gesicht mit Quark beschmiert. Als wäre ich ein kleines Kind. Bis jetzt hat mir so etwas nie wirklich was ausgemacht, aber plötzlich ist mir die übermäßige Fürsroge und Vorsicht meiner Eltern so unendlich lästig. Sie legt sich auf mich und drückt mich nieder. Ich möchte sie einfach mit aller Wucht von mir zerren und wegschmeißen. Es ist fast unerträglich, meine Mutter gewähren zu lassen. Als sie endlich fertig ist, stürme ich die Treppe hoch, froh, sie endlich los zusein.

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 23, 2020 ⏰

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Lilly & LouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt