Probleme

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Ich liege gefühlte Stunden auf dem Boden, bis ich mich beruhigt habe. Ich setze mich auf und wische die Tränen ab. Dann laufe ich zu einem der Spiegel und frische erst mal das Make-Up wieder auf. Man erkennt zwar, dass ich geweint habe, aber es sieht nicht mehr so schlimm aus. „Wenn ich schon hier bin, dann kann ich eigentlich auch ein bisschen trainieren. Lass ich den Unterricht ausfallen, das bringt mir sowieso nichts. Verfickte Nike, was muss sie auch diesen Scheiß machen!“, fluche ich. Ich laufe also zu der Musikanlage, stöpsle mein Handy an und dreh das Volumen auf. Linkin Park dringt mit „Papercut“ an meine Ohren und beleben meine Sinne. Ich gehe zu den Waffen hinüber und lege wieder dieses Set aus Silber an. Ob ich Trainer Ajax fragen kann, ob ich es behalten darf? Es fühlt sich so richtig an, wenn ich es bei mir habe. Ich mache mir keine weiteren Gedanken, sondern schließe kurz die Augen. Ich spüre die Melodie und den Beat, ich merke das Gewicht des Silbers auf meinem Rücken und an meiner Hüfte. Ich bin bewusst, was um mich herum geschieht, ohne dass ich es sehe. Ich stelle mir Gegner vor, die keiner sieht. Die Sporthalle wird zu einer Arena. Und dann beginnt mein tödlicher Kampf mit den Waffen. Ich handel intuitiv, nehme nicht wirklich wahr, was ich tue. Mein Körper reagiert von allein, führt Bewegungen selbstständig aus. Und wie jedes Mal verliere ich mich.
Ich erwache aus meiner Trance, als eine männliche Stimme meinen Namen ruft. „Claire!“ Abrupt höre ich auf und drehe mich zu der Stimme. „Trainer Ajax...“, beginne ich.
„Solltest du nicht im Unterricht sein?“, fragt er vorwurfsvoll.
„Ja, wahrscheinlich sollte ich das. Aber das, was Nike gesagt hat, mit Loki’s Kind. Das hat mich so aus der Bahn geworfen und an früher erinnert…Ich konnte einfach nicht. Ich musste mich ablenken“, entschuldigte ich mich. JA, ich hatte an früher gedacht. Daran, wie Loki mich aufgenommen und versorgt hat, wie er mich ausgebildet und erzogen hat. Und an das, was passiert, wenn sie herausfinden, wer ich bin.
„Ich verstehe dich, Claire. Aber du hättest Bescheid sagen sollen. Professor Metis hat sich Sorgen gemacht, weil du nicht erschienen bist. Was hat dich denn daran so aus der Bahn geworfen?“ Ajax‘ Stimme wird weich.
„Ich… ich kann und will nicht darüber sprechen. Wirklich nicht.“ Schon wieder bin ich den Tränen nah. Wenn es eines gibt, was mich zum heulen bringt, dann ist es, wenn ich daran erinnert werde, dass mein geliebter Vater mein Todesurteil ist. Natürlich hasse ich Loki, aber ich liebe meinen Vater. Versteht man den Unterschied? Der Gott an sich ist mir zu wider, weil er abgrundtief böse ist und nie etwas Gutes tut. Aber mein Vater, mein Vater ist der Liebevollste und Gütigste, den ich kenne; er ist immer für mich da und will nur mein Bestes. Wer würde da nicht heulen?!
„Du musst mit jemanden reden. Wer weiß von deinem Problem?“
„Mein Dad“, flüsterte ich leise.
„Und weiß er von Nike’s Ansage?“
„Noch nicht, aber ich rede mit ihm darüber, versprochen.“
„Das ist gut, Claire.“ Ajax lächelt mich an. Ich lächel zaghaft zurück. Natürlich werde ich mit Loki über die Ereignisse reden, sonst würde ich ja nicht hier sein. Ich darf meine Mission nicht aus den Augen verlieren. Ich sollte mehr dafür arbeiten.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“
Ich schüttel den Kopf. Ajax lächelt noch einmal, dann wendet er sich zum Gehen. „Trainer Ajax? Ich habe doch noch eine Frage.“
„Welche denn?“ Er dreht sich wieder um.
„Darf ich die Sachen hier behalten?“ Ich sehe ihn bittend an. Lange betrachtet mich der Lehrer durchdringend, dann nickt er. „Ich bleibe hier, falls das in Ordnung ist?!“
„Natürlich, ich werde dich entschuldigen.“ Dann verschwindet Ajax aus der Sporthalle. Ich setze mein Training fort. Eigentlich ist es schade, dass er so freundlich ist. Denn immerhin nutze ich das aus. Aber hey, das ist sein Problem, wenn er Leuten vertraut, nur weil sie heulen und nicht zum Unterricht kommen. Dämliche Kotzbrocken von Menschen!

Abends beende ich völlig verschwitzt mein Training und gehe erst einmal duschen. Hinterher schlüpfe ich in Jogger und schwarzes Top und laufe mit Flip-Flops zum Abendessen. Ehrlich, ich fühl mich wie der letzte Penner, aber ich hatte einfach kein Bock mich zu stylen für eine halbe Stunde. Ich schnappe mir einen genießbaren Salat und setze mich in eine Ecke. Ein Bein angewinkelt auf dem Stuhl esse ich langsam meine Schüssel. Nach einer Weile entdeckt Olli mich. Anscheinend hat er schon gegessen, der er kommt ohne Mahlzeit zu mir.
„Hey“, sagt er besorgt.
Ich lächel ihn an. „Hey.“
„Wie geht’s dir? Ich hab mitbekommen, was du Will an den Kopf geworfen hast. Ich hab mir Sorgen gemacht.“ Olli lässt sich auf den Stuhl neben mir sinken.
„Alles okay. Nike’s Rede hat mich aus der Bahn geworfen. Ich meine, jeder hier weiß, dass ich ein Halbblut bin. Ich schätze, sie werden mich als Loki’s Tochter abstempeln.“ Ich sehe ihn traurig an. Verdammte Scheiße, mein Schauspieltalent habe ich definitiv nicht verlernt. Mein Körper entwirft die Masken immer noch so perfekt wie früher. Auch wenn meine Stimme das nicht mehr kann.
„Das kann natürlich passieren. Aber ich glaube das nicht. Viele haben gesehen, wie du und Will miteinander umgehen und auch die Nachfolger von Loki können kein solches Gefühl entwickeln. Claire, mach dir da keinen allzu großen Kopf.“ Olli sieht mir in die Augen.
„Ich versuch’s. Danke. Wie geht es Will?“, frage ich leise.
„Er sah geschockt aus. Kein Wunder, du hast ihm gesagt, dass dir die Küsse nichts bedeutet haben. Ich glaube, er hatte sich das anders erhofft. Wenn ich das richtig beurteile, dann steht der Kerl auf dich.“
„Na super! Ich muss mit ihm sprechen.“ Ich wollte schon aufstehen, da hält Olli mich fest. Ich sehe ihn fragend an.
„Ich bin noch nicht fertig.“ Ich setze mich wieder ordentlich hin. „Du bist wie eine Königin weggegangen. Ehrlich.“ Wir grinsen uns kurz an. „Logan ist sofort zu ihm gegangen. Er mag dich nicht, aber frag bloß nicht warum. Das weiß ich nicht. Jedenfalls meinte Logan, Will soll sich von dir fernhalten und er sei zu gut für dich. Kennt ihr euch irgentwo her?“
Ich schüttel langsam den Kopf. „Ich wüsste nicht, woher.“ Ich und Logan Quinn kennen?
„Ist ja auch egal. Will hat ihn dann angeschrien, dass Logan dich doch gar nicht kennen würde und er nicht weiß, wie wundervoll du bist. Kurz zusammengefasst. Das Ganze ging ständig hin und her. Dann meinte Logan, Will soll sich zwischen ihm und dir entscheiden. Und dann ist er gegangen. Mehr weiß ich nicht, weil dann Alexei kam.“ Olli grinst mich an. Ich schüttel nur den Kopf und verdrehe die Augen. „Ich werde mit Will sprechen. Er soll bei Logan bleiben. Auch wenn es mir das Herz bricht, wenn er von meiner Vergangenheit erfährt, ist alles aus. Er wird sich so oder so unbeliebt machen, wenn er mit einem Halbblut zusammen kommt. Also werde ich ihn wohl verhöhnen und runterputzen.“ Ich seufze.
„Ich weiß nicht, Claire. Vielleicht solltest du lieber erst mit Logan reden und eure Differenzen klären. Was meinst du?“
Ich nicke. „Ich geh ihn suchen und ihn frage, was er gegen mich hat.“ Dann umarme ich meinen besten Freund kurz, flüster ihm ein „Danke“ zu und gehe. Olli kehrt zu Alexei zurück, der anscheinend auf ihn gewartet hat.
Ich knurre unterwegs: „Verdammte Scheiße! Warum passiert sowas immer mir?! Fick dich, Dad!“

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