Kapitel 18

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Am nächsten Morgen erwachte Mika bereits, bevor die ersten Sonnenstrahlen das Zelt berührten. Morgens war die Luft noch frisch und kühl, es war angenehm. Ganz anders als die glutheiße Mittagssonne, die einem die Haut verbrannte.

Er streckte sich und trat vor das Zelt. Noch waren nur wenige wach, sie schlichen wie Schatten in der Dämmerung herum. Es war befreiend. Und so wunderschön. Das war sie. Die Freiheit.

Mika schlenderte durch das Lager. All die Anspannung des gestrigen Tages war von ihm abgefallen. Er fühlte sich frei. Sein Weg führte ihn zum Waldrand. Dieser Wald übte, aus welchem Grund auch immer, einen magischen Sog auf ihn auf. Die Vögel saßen in den Baumkronen, auf Ästen oder in ihren selbstgebauten Nestern. Sie zwitscherten und sangen Melodien. Wunderschöne, vergessene Melodien. Er schloss die Augen, gab sich dem Gesang der Vögel und dem leisen Rascheln der Blätter hin. Der Wind fuhr durch seine Haare, kitzelte seine Wangen.

Freiheit. Das hier musste Freiheit sein. Denn er konnte sich nichts Schöneres im Leben vorstellen. Langsam öffnete er die Augen und betrachtete die Schönheit der Natur um ihn herum. Die grünen, kräftigen Blätter schwangen im Wind harmonisch hin und her. Es roch nach ... nach Freiheit. Es roch nach purer Freiheit.

»Mika!« Hinter ihm kam Will den kleinen Trampelweg angerannt. Sein Gesicht war knallrot, er keuchte, so außer Atem war er. Und das lag bestimmt nicht an seiner schlechten Kondition. Etwas musste passiert sein.

Mit einem Mal war Mika hellwach. Er sprang von dem Baumstamm, auf dem er sich gesetzt hatte, auf. Will kam vor ihm zum Stehen und stützte sich mit den Händen auf seinen Knien ab, um wieder zu Atem zu kommen.

»Wir werden angegriffen«, keuchte er.

»Was?« In Mikas Kopf rasten die Gedanken. Wer sollte sie denn angreifen? Vielleicht die Soldaten? Nein. Das taten sie nie. Und warum? Warum wurden sie angegriffen? Und wo? Wo waren sie?

Will richtete sich wieder auf. »Komm sofort mit.« Er rannte wieder den Weg zurück, den er gekommen war, ohne auf Mika zu warten.

Fluchend folgte ihm Mika und sprintete los, um Will aufzuholen, der bereits ein ganzes Stück Vorsprung hatte. »Was ist denn passiert?«, rief er ihm im Laufen zu, doch Will schüttelte nur den Kopf.

»Spar dir deine Energie für später auf anstatt unwichtige Fragen zu stellen«, war alles, was er dazu sagte.

Sie liefen weiter nebeneinander den unebenen Weg entlang, ohne ein weiteres Wort auszutauschen. Was auch gut war. Mika spürte, wie sein Atem bereits stoßweise ging. Seine Kondition war echt miserabel.

Am Boden lagen Steine und Wurzel. Mika achtete auf jeden Schritt, um nicht zu stolpern. Wie weit war es noch bis zum Lager? Hatte er sich wirklich so weit entfernt? Wo waren sie überhaupt? Mit Erschrecken stellte er fest, dass er diese Stelle nicht kannte. Er konnte sich nicht entsinnen, jemals hier gewesen zu sein.

»Wo wollen wir hin?«, fragte er im Laufen. Nun hatte er auch noch ein Stechen in der Hüfte. Er biss die Zähne zusammen. Durchhalten, sagte er sich selber, auch wenn er nicht das Gefühl hatte, dass es weiterhalf.

Dort vorne war das Ende des Waldes. Sie traten aus dem Dickicht in das Sonnenlicht. Jetzt hörte Mika den Lärm, der aus der entgegengesetzten Richtung kam. Dort musste das Lager liegen. Er folgte dem angespannten Blick Wills. Jetzt verstand er, wo sie sich befanden. Sie waren von der anderen Seite gekommen.

»Wer ist das? Sind es ...« Er wagte es nicht, die Frage, die ihm am meisten auf der Zunge brannte, auszusprechen.

Will betrachtete immer noch die Situation im Lager, bevor er sprach. »Nein, das sind keine Soldaten aus der Stadt. Das sind Leute aus dem Lager.« Er wandte sein Gesicht Mika zu und erfasste offenbar dessen verwunderten Blick. »Nicht alle sind dafür, dass wir die Stadt angreifen. Einige sind der Meinung, dass es ein sinnloses Unterfangen ist, für das wir von einem höheren Wesen bestraft werden.«

Mika lachte auf. »Das ist ein Witz, oder?« Doch Wills Gesichtszüge blieben wie versteinert. »Diese Menschen glauben doch nicht an einen Gott oder so etwas? Das ist ... das ist doch völlig hirnrissig!«

Will schwieg. Er blickte wieder auf das Lager. Rauchsäulen stiegen überall auf. Menschen rannten panisch umher und schrien. Inmitten all dieses Chaos schienen sich einige Männer zu bewegen. Sie trugen Waffe. Immer wieder unterbrachen Schüsse das Geschrei.

»Sind sie das?«, fragte er Will, der neben ihm flach auf dem Boden lag.

»Runter«, zischte Will und machte eine unwirsche Handbewegung. Mika legte sich flach auf den Boden. Hatte man sie etwa gesehen? Oder warum war Will so nervös? Er spielte an irgendeiner Kette mit den Fingern herum, ganz so, als wollte er sich beruhigen.

»Wir gehen da rein«, meinte er zu Mika.

Mika schüttelte vehement den Kopf. »Spinnst du? Das sind doch viel zu viele. Wo sind unsere Männer?«

»Die verbarrikadieren sich am anderen Ende. Sie haben keine Chance. Wir müssen sie von hinten überraschen. Das Überraschungsmoment ist auf unserer Seite.«

»Wir haben ja nicht mal Waffen.« Im selben Moment, als er das sagte, tauchte hinter ihnen im Gebüsch einer von Wills Männern auf. Er trug Waffen in den Händen und auf dem Rücken.

»Jetzt haben wir welche«, sagte Will.

Na super. Deswegen war die Sache dennoch aussichtslos. Da unten waren mindestens zwanzig Feinde, die sie überwältigen sollten.

»Ich kann doch nicht einmal diese Waffe bedienen. Beim Training–«

»Warst du gar nicht schlecht.« Mika drehte sich abrupt um. Aus dem Gebüsch, nahe bei einem großen zerklüfteten Felsen, trat Kalle. »Ich bin mir sicher, dass du es schaffen wirst. Du musst an dich glauben.«

Will hatte die Augen zusammengekniffen. »Wo kommst du her, Kalle? Warum bist du nicht bei den anderen?«

Jetzt verstand Mika nichts mehr. War Kalle nicht etwa hier, weil Will ihm Bescheid gesagt hat? So wie dem anderen ... wie war bloß sein Name? Ach egal, er erinnerte sich einfach nicht mehr daran. Es waren so viele neue Namen. Zu viele für ihn, um sie in so kurzer Zeit alle zu können.

»Ich war im Wald. Wollte etwas für mich allein sein, bevor ich mit der Ausbildung von Mika beginnen sollte. Dann habe ich es gehört. Schritte. Rufe. Ich habe nachgesehen, was da los war. Dann bin ich abgehauen. Ich war allein und unbewaffnet und bin ihnen nur knapp entwischt. Ich wollte sie hinterrücks überraschen. Ihr hattet wohl denselben Plan?« Kalle grinste, was angesichts der Situation ziemlich unpassend war.

Will nickte. »Ja. Gut, dass du da bist. Wir können jeden gebrauchen, den wir kriegen können. Das steigert unsere Chancen.« Er blickte Mika fest in die Augen. »Auch dich Mika. Du bist auch wertvoll.«

Wertvoll? Das war er also. Aber er entgegnete nichts, sondern schwieg, was Will als ein Zustimmen auffasste. »Los geht's. Mir nach.«

Sie folgten Will und schlichen aus dem Schatten der Bäume zwischen den Zelten hindurch. Die Schüsse wurden lauter, sie näherten sich ihren Feinden.

Wo waren sie? Mika suchte die Umgebung ab. Verdammt. Er konnte sie nicht sehen. Mit jedem Schritt näher raste sein Herz. Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht.

Sein Finger über dem Abzug zitterte. Wie sollte er denn so irgendetwas treffen? Sein Herz schlug ihm bis zum Halse. Wo waren ihre Feinde?

Da. Da vorne waren sie! Will gab eine Handbewegung, die so etwas hieß wie: Still sein und verstecken.

»Hier sind wir! Ich habe unsere Freunde mitgebracht.« Mika blickte schockiert zurück. Kalle winkte den Angreifern grinsend zu.

AußenseiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt