Kapitel 19

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»Verfluchter Kalle! Wie konnte er uns verraten?« Will schimpfte schon seit Minuten. Am liebsten hätte sich Mika seine Ohren zugehalten, doch seine Hände waren gefesselt. Ebenso wie die der anderen.

Er schüttelte den Kopf. Kalle. Ausgerechnet Kalle. Seine Lehrer war es, der sie alle verraten hatte. Aber warum? Das ergab doch keinen Sinn.

Immer wieder zerrissen Schüsse die sonst herrschende Stille. Keine Schreie mehr. Keine Rufe. Was war da draußen los? Schwer zu sagen. Sie befanden sich in einem sehr ungewöhnlichen Zelt. Es war völlig schwarz und Mika fragte sich, wie es sein konnte, dass er dieses Zelt noch nicht kannte.

Wieder ein Schuss. Mika zuckte zusammen. So wie bei jedem. Man könnte meinen, man würde sich daran gewöhnen, doch er tat es zumindest nicht. Das Schlimmste war diese Ungewissheit, nicht zu wissen, was da draußen vorging, ob Menschen verletzt waren.

Vor einer Stunde hatte man sie hier eingesperrt, nachdem man ihre Waffe abgenommen und sie gefesselt hatte, und seitdem war niemand gekommen.

»Dieser verdammt Kalle. Ausgerechnet er.« Mika drehte sich von Will weg, in der Hoffnung, sein Fluchen nicht mehr anhören zu müssen, doch leider blieb es ihm nicht erspart. Er hörte jedes Wort mit.

»Ich hätte niemals gedacht, dass er zu so etwas fähig sei. Nur wegen diesem scheiß Mistkerl sitzen wir jetzt hier. Er macht alles kaputt, was wir uns aufgebaut haben. Alles. Verflucht seist du, Kalle.«

Es war ja nicht mehr auszuhalten! »Bitte sei still«, bat er Will, doch der ignorierte ihn. Oder vielleicht hatte er ihn auch nicht gehört, jedenfalls fuhr er unbehelligt mit seiner Schimpftirade weiter.

»Ausgerechnet Kalle. Er war doch so gut. Zu gut, dieser Mistkerl. Wenn ich ihn in die Finger kriege. Er wird all meinen Zorn zu spüren bekommen. Er wird das bekommen, was er verdient, für seinen Scheiß, den er da abgedreht hat.«

Zum ersten Mal mischte sich nun der dritte Mann, von dem Mika immer noch nicht den Namen wusste, ein. »Will, sei still, verdammt noch mal. Ich ertrage es langsam wirklich nicht mehr.«

Diesmal schwieg Will und verschränkte die Arme vor der Brust. Man sah ihm an, dass er gerne weitersprechen wollte, vielleicht auch nur, um sich selber zu beruhigen, aber er sagte nichts. Was ihm wohl schwer fiel. Will spielte mit seinen Fingern und wippte mit seinem Fuß. Was leider auch nicht besser war als zu reden.

Mika seufzte. Wann würden sie wiederkommen? Und was würde dann geschehen? Kaum vorstellbar, dass man sie einfach freiließ. Und hier draußen gab es ja nicht so etwas wie eine Gerichtsverhandlung. Auch wenn die in der Stadt eher ein Schauspiel war, er sehnte sich jetzt in diesem Augenblick danach. Nach Recht und Ordnung.

Pah. Er schnaubte. Recht und Ordnung. Wie konnte er so etwas überhaupt noch denken, nach all dem, was geschehen war?

»Will, du machst mich verrückt mit deinem Wippen«, meinte er zu Will.

»Kann ich ja nichts dafür.« Wills Stimme war laut geworden. Offenbar lagen bei ihnen allen die Nerven blank. Mika entgegnete nichts, sondern rückte noch etwas von Will ab und seufzte wieder.

Wann kamen sie endlich? Es war ihm egal, was mit ihm geschah, Hauptsache etwas geschah. Er hielt es hier drinnen einfach nicht mehr aus.

»Wir müssen uns befreien«, murmelte Will plötzlich. Oh nein, jetzt ging das schon wieder los. Mika vergrub seinen Kopf zwischen den Beinen. »Wir müssen uns befreien. Wir müssen uns befreien.«

»Das haben wir doch schon versucht. Zwecklos«, entgegnete er Will, doch der hörte schon wieder nicht zu, sondern suchte erneut den Raum ab, um irgendetwas zu finden, was ihnen helfen konnte, hier herauszukommen.

»Wir haben schon vor einer halben Stunde alles abgesucht. Hier drinnen ist nichts. Wirklich nichts. Bitte, hör also jetzt einfach auf und akzeptiere, dass wir von hier nicht wegkommen.«

Will beachtete ihn nicht. Mika seufzte. Nun ließ auch er seinen Blick durch den Raum schweifen. Regale. Ein Tisch. Zwei Stühle. Alle zu weit entfernt. Und nutzlos obendrein.

Gerade als er zurücksank, hörte er ein Rascheln. Mika wagte es nicht mehr, zu atmen. Da. Wieder. Es war direkt hinter ihm. Aber wer sollte da sein? Ihre Feinde würde doch sicher–

Etwas stach ihm in den Rücken. Er schrie auf. Ein Fluchen ertönte, dann ein »Tut mir leid«.

Mika drehte sich um. Ein Messer war durch die Zeltwand gesteckt. Jetzt fuhr es von oben nach unten und schaffte so einen Spalt.

»Boris!«, schrie Will erleichtert auf.

»Still!«, zischte der Mann, der offenbar Boris hieß. »Ich bin hier, um euch zu befreien.«

Will blickte ihn an. »Wie bist du–«, begann er, doch Boris unterbrach ihn mit einer Handbewegung und bedeutete ihnen, still zu sein.

Dann kroch er durch den Spalt zu ihnen ins Innere und schnitt geschickt ihre Fesseln durch. Mika rieb sich seine Handgelenke. Ah, tat das gut. Vom vielen hin- und herbewegen hatten sich seine Fesseln in das Fleisch gebohrt.

»Ein Glück«, flüsterte Will.

Sie schlüpfen durch das Loch in der Außenwand des Zeltes. Draußen wehte ein kühler Wind. Er war angenehm, man wollte fast verweilen.

»Wo sind die Waffen, die sie uns abgenommen haben?« Will sah Boris fragend an, doch der zuckte nur mit den Schultern. Will fluchte. Mal wieder.

»Sie müssen doch irgendwo sein.« Sie schlichen zwischen den Zelten entlang und plötzlich sah Mika sie. Die Waffen. Da war ein Aufblitzen in einem der Zelte, wie von einer Reflexion.

»Dort«, hauchte er und zeigte mit der Hand auf den Eingang des Zeltes. Es waren keine Wachen zu sehen. Das war verwunderlich, aber offenbar hatte man nicht damit gerechnet, dass sie es schaffen würden, zu entkommen.

Will gab Befehle. »Los! Schnell!«

Sie huschten zum Zelteingang herüber. Tatsächlich. Da waren die Waffen, völlig unangetastet auf einem schwarzen Tisch. Mika sondierte die Lage. Niemand war zu sehen. Dann los.

Er lief in das Zelt, griff nach den Waffen und eilte zurück. Fast erwartete er, dass irgendein Alarm ausgelöst wurde oder sich das Ganze doch nur als Falle herausstellte, doch nichts dergleichen geschah.

Sie liefen in die Richtung, aus der die lauten Geräusche kamen. Schüsse. Jede Menge Schüsse. Offenbar wurde noch gekämpft. Ob Unschuldige verletzt waren? Irgendwie graute es Mika, je näher sie den Geräuschen kamen. Er hatte Angst, was sie dort vorfinden würden.

Dann waren sie da. Mika durchfuhr ein Schreck. So viele lagen auf dem Boden. Waren sie verletzt oder ... oder vielleicht tot?

Und dann sah er ihn. Kalle. Mika biss sich auf die Zunge, er wollte losstürmen, doch Will hielt ihn fest. Sie mussten besonnen handeln. Erst einmal beobachten.

Kalle und die anderen Feinde waren ebenfalls stark dezimiert. Zudem waren sie – wenn man Mika, Will, Boris und den Mann, dessen Namen Mika nicht kannte, einrechnete – in der Unterzahl. Außerdem könnten sie sich unmöglich gegen zwei Seiten gleichzeitig wehren.

Das einzige, was sie im Moment schützte, war eine gebaute Barrikade aus Kisten und zusammengekrachten Zelten. Bislang hatten sie Mika und die anderen noch nicht gemerkt. Sie waren zu sehr beschäftigt, Wills von vorne kommende Männer im Schach zu halten.

Mika sah Will an. Dachte er das Gleiche? Wahrscheinlich. Er blickte zurück. In diesem Moment verstanden sie einander, ohne Worte wechseln zu müssen.

Will nickte. Mika ebenfalls.

Dann trat Will vor. »Ergebt euch!«, rief er, mit einem leicht umspielten Lächeln auf den Lippen.

AußenseiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt