Wie die Luft zum Atmen

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Es ist spät am Vormittag. Die Straßen in Yokohama sind dicht befahren von Autos und LKWs und hier und da hört man anspringende Motoren, Hupen oder das Signal einer Ampel. Hektische Hausfrauen und gelassene ältere Ehepaare gehen in das Kaufhaus Takashimaya, direkt am Westausgang des Hauptbahnhofs, um Einkäufe zu erledigen oder ein Café aufzusuchen. Etwas entfernt davon, im prächtigen, modernen Yokohama Museum of Art schauen sich Schulklassen und Senioren staunend die derzeit aktuelle Ausstellung impressionistischer Maler an. Im Yamashita Park, der am Wochenende als beliebter Spot für Dates oder Familienausflüge genutzt wird, sind an diesem Wochentag um diese Uhrzeit im Vergleich kaum Menschen unterwegs. Auf der Promenade begegnet man nur ein paar Läufern und viele der weißen Bänke, von denen aus man die Sicht auf das Meer und die Schiffe genießen kann, sind nicht besetzt. Der Himmel ist strahlend blau, doch am Horizont scheinen Sturmwolken aufzuziehen.

Dazai geht langsam den langen, halbdunklen Korridor des Hauptsitzes der Hafenmafia entlang. Er spürt, wie sich die kleinen Köpfe der Überwachungskameras hoch oben unter der Decke und an den Seiten der Backsteinwände zu ihm drehen. Sie reagieren auf körperliche Wärme wie Motten auf das Licht. Er steigt in den Aufzug am Ende des Ganges und fährt tief in den Keller hinunter. Das hohe Gebäude ist streng kontrolliert - auf den insgesamt 54 Etagen sind in so gut wie jedem Winkel die Kameras angebracht. Das Büro des Bosses, Mori Ougai, liegt auf einer der höchsten Etagen. In dem riesigen, nie vollständig beleuchteten Zimmer, besteht eine Seite von der Decke bis zum Boden aus einer zentimeterdicken Fensterwand. Oftmals sitzt er in einem fein verarbeiteten Sessel aus dunklem Nussholz und samtigen Polster in Rot. Neben ihm steht auf einem kleinen Tischchen ein kunstvoll bemaltes Porzellanset, bestehend aus einem Teekännchen, einer Tasse und einem Untersetzer. Er hat die Beine übereinander geschlagen und die Ellenbogen auf den Armlehnen abgestützt. Seine in schneeweiße Handschuhe eingehüllten Hände sind locker ineinandergegriffen. Von hier aus blickt er machtvoll auf die schillernde Stadt am Meer herunter. Seine Stirn ist in Falten gelegt. Dazai war gerade bei ihm gewesen, um ihm von der Mission der vergangen Nacht mit Chuya zu berichten. Wie nicht anders zu erwarten war, war Dazais Plan erfolgreich verlaufen und die Bande, die in letzter Zeit so viel Schaden angerichtet hatte, eliminiert worden.

Soukoku.

Mori hatte nur zufrieden gelächelt.

In ein paar Tagen wird er mit der Durchführung seines nächsten Plans beginnen, an dem er schon seit längerem feilt. Der erste Stein dafür ist bereits in Rollen gekommen - Dank Angos erfolgreichen Aufnahme in die Organisation Mimic. Er schaut aus dem Fenster, aber er nimmt die Landschaft, die sich ihm darbietet, nur bedingt war. In Gedanken geht er den Plan noch einmal Schritt für Schritt durch. Niemand außer ihm weiß von seinem Vorhaben. Nicht einmal Dazai, seine rechte Hand. Es darf kein Fehler geschehen. Es geht schließlich um den sicheren Fortbestand der Mafia.

In den Kellergemäuern ist es immer etwas kühl. Man kann nicht ausmachen, ob es Tag oder Nacht ist, denn außer dem gelben dumpfen Licht aus den altmodischen Lampen, gibt es keine Lichtquelle. Dazai marschiert mit geraden Rücken den Gang entlang. Sein langer schwarzer Mantel liegt schwer auf seinen Schultern. Die Absätze seiner Lederschuhe hallen nur leicht, aber er empfindet den Klang fast als störend.

Er weiß nicht mehr um wie viel Uhr er genau nach Hause gekommen ist. Mit Chuya ist er noch ein ganzes Stück zusammen gegangen, da sie in der gleichen Richtung wohnen und auf der Hälfte des Weges hatten sie angefangen zu streiten. Über irgendwas. Und Chuya hatte versucht ihn zu treten oder zu schlagen oder irgendwie anderweitig zu triezen. Wie immer. Natürlich vollkommen wirkungslos. Er arbeitet schließlich nicht erst seit gestern mit dem Rotschopf zusammen und kann daher alle seine Bewegungen und Gedankengänge fast blind erahnen. Dennoch hatte ihr Gekabbel wohl länger gedauert als erwartet, denn als er endlich in seine spartanische Wohnung zurückkehrte, sich schnell duschte und daraufhin auf den Futon legte, um zu schlafen, klingelte nach kurzer Zeit schon wieder sein kleines, schwarzes Handy. Er hatte es 2, 3 Mal ignoriert, aber als er es mit Mühe schaffte, die noch vor Müdigkeit kleinen Augen zu öffnen und auf den grellen Bildschirm zu starren, war es eigentlich bereits höchste Zeit, sich auf den Weg zum Hauptquartier zu machen.

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