Ich muss mit Ihnen sprechen. Persönlich.
Zum mittlerweile sechsundfünfzigsten Mal las ich diese Nachricht. Nach dem achtunddreißigsten Mal hatte ich endlich entschieden, dass es das Richtige war, die SMS abzuschicken, und hatte auf Senden gedrückt. Diesen Beschluss bereute ich jetzt schon seit gut drei Stunden immer wieder, nur um ihn jedes Mal kurz darauf doch wieder zu bestätigen. Denn es war das Richtige, mit Agent West zu reden. Er würde wissen, was zu tun war. Und ich brauchte jemanden, der mir das sagte, weil ich selbst gerade keine Ahnung hatte, wie ich mit der Situation umgehen sollte.
Mit der Situation, verantwortlich für Morris' Tod zu sein. Ich warf einen kurzen, unwilligen, aber nicht zu verhindernden, beinahe reflexartigen Blick auf die Stelle, an der er gelegen hatte. Matt und Paul hatten die Leiche weggetragen und ich hatte das Blut weggewischt. Trotzdem sah ich es noch, das Blut, die tiefrote Lache, die sich unter dem erkaltenden Körper mit den toten, weit aufgerissenen Augen ausbreitete.
Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. Da war nichts! Ich hatte alle Spuren beseitigt. Ich hatte mehrmals und insgesamt fast zwei Stunden lang wie verrückt den Boden geschrubbt, weil ich immer wieder das Gefühl gehabt hatte, doch noch einen letzten Rest Blut entdeckt zu haben. Ja, ab einem bestimmten Zeitpunkt war das wohl bloß Einbildung gewesen und das wusste ich auch. Jetzt wusste ich das. Aber in diesen zwei Stunden, in der Zeit, nachdem Paul und Matt sich gemeldet und mir mitgeteilt hatten, dass sie die Leiche erfolgreich entsorgt hatten, in der Zeit, in der ich allein im Club gewesen war, da war ich kaum zurechnungsfähig genug gewesen um die Streiche zu erkennen, die mir mein völlig überforderter Verstand spielte. Ich hatte nicht klar erkennen können, welche Blutflecken ich nur vor meinem inneren Auge sah oder welche Geräusche, welche knarzenden Türen ich tatsächlich gehört hatte. Und das nicht nur für ein paar Stunden, sondern im Prinzip die ganze Nacht lang.
Jetzt, um zehn Uhr vormittags, hatte ich mich wieder halbwegs beruhigt. Trotzdem war ich noch immer im Clubraum, und zwar weil es hier zwei Ausgänge gab, während ich in meiner Wohnung, in Ethans Wohnung, keinen Fluchtweg hätte, sollte jemand kommen und versuchen, mich zu töten oder mich an den Boss auszuliefern. Nicht zum ersten Mal in den letzten Stunden fragte ich mich, warum ich überhaupt noch hier war. Wenn Morris einen Polizeikontakt gehabt hatte, der mich an ihn verraten hatte, dann könnten andere ebenfalls Zugriff auf polizeiliche Informationen haben. Auch wenn Paul und Matt mich weiterhin wie Ethan behandelten, hieß das nicht, dass ich wieder sicher war. Ehrlich gesagt war ich nie sicher gewesen – ich hatte nur die Gefahr immer mehr aus den Augen verloren, je länger alles gut gegangen war.
Aber jetzt war nicht mehr alles gut. Jetzt war ich bereits einmal aufgeflogen. Gut, Morris war tot und er konnte niemandem mehr erzählen, was er über mich herausgefunden hatte. Aber das war auch wirklich das einzig Gute an seinem Tod.
Denn im Großen und Ganzen fühlte ich mich wegen seines Todes einfach nur schrecklich. Ich fühlte mich schuldig. So schuldig, dass ich die ganze Nacht lang kein Auge zugetan hatte. So schuldig, dass ich mir in einer Art hysterischem Anfall um drei Uhr morgens in klassischer Lady-Macbeth-Manier fast zwanzig Minuten lang verzweifelt die Hände gewaschen hatte, um das Gefühl von Morris' Blut an meinen Fingern loszuwerden. So schuldig, dass ich mich zuerst nicht getraut hatte, Agent West um eine Unterhaltung zu bitten.
Das war auch der Grund dafür, dass ich immer noch hier herumsaß, der wahre Grund, den ich mir nicht so gerne eingestehen wollte. Der Grund, warum ich nicht schon längst einfach auf die Polizeiwache gefahren war, um zu verkünden, dass ich aus der Sache ausstieg und dringend Personenschutz brauchte. Ich wusste nicht, wie ich das tun sollte. Wie ich erklären sollte, was letzte Nacht passiert war. Was ich getan hatte. Denn ich würde es erklären müssen und das machte mir Angst. Ich wollte nicht wieder in einem Vernehmungsraum landen und dann gestehen müssen, dass ich Morris getötet hatte.
Du hast ihn nicht getötet. Es war ein Unfall. Ich hatte die Pistole in der Hand gehalten, als sich der Schuss gelöst hatte. Er auch. Ja, aber er war tot und ich war noch am Leben. Ich hatte die Waffe in der Hand gehalten, als Paul hereingekommen war. Ich hatte Paul und Matt die Leiche entsorgen lassen. Doch nur um die Gangsterboss-Fassade aufrechtzuerhalten. Ja, aber die Polizei wusste das nicht. Gut, sollte es zu Ermittlungen gegen mich kommen würde Agent West den anderen Beamten zweifellos mitteilen, dass alles im Rahmen eines Undercover-Auftrags geschehen war, den er mir erteilt hatte. Und dass ich für das FBI ermittelte und deswegen mein eigenes Leben in Gefahr gewesen war, würde mir mit Sicherheit positiv angerechnet werden.
Aber ich konnte nicht beweisen, dass es ein Unfall gewesen war. Viel wahrscheinlicher war nämlich, dass ich Morris bewusst und gezielt getötet, also ermordet hatte, weil er mich enttarnt hatte. Weil er mein Leben durch sein Wissen gefährdet hatte. Mir war nur zu bewusst, dass das ein sehr überzeugendes Motiv war. Eine meiner Meinung nach sehr viel überzeugendere Story als die, dass ich ihn bloß aus Versehen erschossen hatte.
Im Innenraum des Clubs gab es keine Kameras, die unser Ringen um die Waffe bestätigen könnten. Der Erste, der am... Tatort erschienen war, war Paul, und der würde sicher nicht zu meinen Gunsten aussagen. Nein, sobald ich diese Mission abbrach würde er verhaftet werden, meinetwegen, und sich sicher nur allzu gerne dafür revanchieren, indem er gegen mich aussagte und Morris' Tod wie einen Mord aussehen ließ. Aber auch ohne eine rachsüchtige Falschaussage von Paul sah das Ganze schon nach einem Mord aus: Es gab ein Motiv und ich hatte die Leiche verschwinden lassen. So etwas taten Mörder.
Oder verzweifelte Laien-Undercover-Ermittler, die eine Rolle spielen müssen! Ja. Aber würde man mir das glauben?
Unwillig schüttelte ich den Kopf. Das würde ich wohl bald herausfinden. Denn ich würde Agent West um zwölf in der Stadt treffen. Und dann würde ich ihm sagen, dass Captain Wayne korrupt war, dass Morris herausgefunden hatte, wer ich war, und dass er jetzt tot war. Ich seufzte tief. Ich musste es West sagen. Auch wenn ich das nicht wollte.
Denn der Gedanke, das alles einfach irgendwie zu vertuschen, war durchaus verlockend. Ich hatte nicht wirklich eine Ahnung, wie ich das tun sollte, immerhin wussten zumindest Paul und Matt, dass Morris tot war. Aber das könnte ich vielleicht irgendwie regeln. Die Leiche war entsorgt und Matt hatte mir versichert, dass sie nicht zufällig gefunden werden würde. Es gab im Clubinneren keine Kamera. Bevor Matt und Paul Morris hinausgetragen hatten, hatte Matt dafür gesorgt, dass die Kamera an der Hintertür nichts mehr aufzeichnete. Morris war ein Krimineller und es war daher nicht unwahrscheinlich, dass er nicht tot, sondern einfach untergetaucht war. Ich müsste nur Paul und Matt dazu kriegen, mich nicht zu verraten, und dann gut lügen und zumindest Letzteres konnte ich ja mittlerweile. Ich müsste nur...
„Nein." Ich zuckte zusammen, als ich merkte, dass ich das gerade laut ausgesprochen hatte. Laut und vehement. Nein, ich konnte Morris' Tod nicht vertuschen. Oder besser: Ich würde es nicht tun. Dass ich überhaupt darüber nachdachte... Was sagte das über mich aus? Was sagte das über den Mann aus, zu dem ich geworden war?
Die Hintertür wurde geöffnet und ich bekam fast einen Herzinfarkt. Doch es war nur Paul, der eintrat und genauso wie immer wirkte: misstrauisch, aber nicht so, als hätte er mehr als nur ein ungutes Gefühl gegen mich in der Hand.
Ich entspannte mich ein wenig, auch wenn ich mich fragte, was er um diese Uhrzeit hier wollte. „Was ist?"
Paul machte die Tür, in der er stand und die er mit einer Hand offen hielt, auffordernd noch ein Stück weiter auf. „Wir müssen los", verkündete er und warf einen Blick auf das Handy in seiner anderen Hand.
Verwirrt runzelte ich die Stirn, stand aber auf. „Wohin?", fragte ich irritiert.
„Der Boss hat angerufen. Er will dich sehen."
DU LIEST GERADE
Becoming Him
Mystery / ThrillerEin Mord im Rotlichtviertel von Los Angeles. Das Opfer ist der Besitzer eines Clubs und Mitglied eines Menschenhändlerrings. Was alles noch nichts besonders Ungewöhnliches ist. Bis FBI-Agent West auf den Plan tritt und einen kühnen Plan entwickelt...