Kapitel 6 (-) Leander

7 1 2
                                    

Leander rannte los, weg von dem Mann vor ihm. Intuitiv warf er sich nach vorne und rollte sich über die Schulter ab. Der Knall ertönte direkt über ihm und versengte das Fleckchen Erde hinter ihm. Das eiskalte Lachen des obersten Zeitenjägers ließ sein Blut gerinnen, als er mit Schwung wieder auf die Beine kam und weiter lief. Erste Schüsse jagten durch die frühe Nacht und vertrieben auch das letzte Tier in der Umgebung, nur der Drache hob den Kopf. Während dieser die Flügel ausspannte erwischte einer der Schüsse Leander an der Schulter und riss ihn zu Boden. In letzter Sekunde rollte er sich zur Seite und die Stelle, an der er gerade noch gelegen hatte war schwarz vor Asche.

Er hörte die Schritte, die auf ihn zu liefen, sah die Kugeln, die um ihn herum in den Sand einschlugen. Es war der hohe Warnschrei, der ihn innehalten ließ. Die Lichtkegel waren plötzlich auf ein Ziel am Himmel gerichtet und ein markerschütterndes Brüllen ließ die Luft vibrieren. Für einen Augenblick schien die Zeit stehenzubleiben und sein Blick fuhr nach oben. Ein uralter Albtraum schien wahr zu werden, als der Drache sich auf ihn stürzte und mit seinen Klauen in die Luft emporhob. Mit Leander in den Klauen rauschte der Drache dicht über das wilde Gras hinweg, Schüsse peitschten durch die Luft und mit einem Mal tauchte der Zaun vor ihnen auf. Panische Angst schoss durch Leanders Adern und der Drache machte einen gewaltigen Schwung nach oben. Während sie plötzlich kopfüber in einem Looping über den Zaun hinwegjagten veränderte sich Leanders Sichtweise der Dinge etwas. Für einen kurzen Moment sah er die ungläubigen Gesichter der Männer hinter ihm, das entsetzte Gesicht des obersten Zeitenjägers, die pure Wut, die folgte.

Irgendjemand hatte es wohl auf ihn abgesehen, einer der Großen. Erst nachdem die Welt wieder richtig stand, schien sein Kopf wieder anzufangen, die wichtigen Probleme wahrzunehmen. Klar, er war den Zeitenordnern entkommen, doch nun war er unter einem Drachen gefangen über einen Zaun geflogen, der etwas sehr Wichtiges zu verstecken schien. Er ließ seinen Blick vorsichtig über die Klauen wandern, die ihn sicher hielten. Sie waren schwärzer als die Nacht, die ihn umgab und, wenn er genau hinsah, konnte er sogar winzige hellblaue Punkte erkennen. Entgegen aller seiner Erwartungen hätte man sie fast als schön bezeichnen können. Sein Blick wanderte wieder in Flugrichtung und nun konnte er viele kleine Lichter in der weitläufigen Felswand vor sich erkennen. Was auch immer es wahr, es schien im Berg selbst verborgen zu sein. Je näher sie der Wand kamen, desto mehr konnte Leander im schwachen Licht der wenigen Sterne erkennen, die jetzt langsam am Himmel auftauchten. Kleine Scheiben spiegelten sich an einigen Stellen der Bergflanke und zogen sich über mehrere Etagen hinweg. Ein Fenster so breit, dass einer der uralten Busse aus den Museen der Länge nach reingepasst hätte, war über allen Fenstern in den Stein eingesetzt und leichte Neugierde durchflutete ihn.

Als ob der Drache seinem Blick folgen würde änderte er seine Flugrichtung genau auf das Fenster zu und zog eine weitläufige Kurve, dann beschleunigte er und streckte sein freies Krallenpaar aus. Eine Sirene schrillte hinter dem Glas los und Lichter gingen hinter den meisten Fenstern an. Leander zog in einem Sekundenbruchteil seinen Kopf ein, als er erkannte, was der Drache vorhatte. Mit den Klauen voran warf er sich gegen die Scheibe und ein gewaltiger Riss zog sich der Länge nach durch die Scheibe. Nachdem der Drache ein zweites Mal seine Klauen gegen die Scheibe gerammt hatte bildete sich ein Netz aus Haarrissen und die Scheibe gab nach, als er nochmals mit seinen Hinterbeinen dagegen drückte. Auf der gesamten Länge klirrte die Scheibe und die Scherben stoben in den Raum dahinter. Weiteres Sirenengeheul fluteten den Raum, als Leander plötzlich aus den Klauen des Drachens in den Raum fiel. Schnell rappelte er sich hoch und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, er musste in einer Art Kommandozentrale gelandet sein.

Ein weites Halbrund aus Bildschirmen und Schreibtischen war vor ihm aufgebaut und als er auf es zutrat, konnte er Bilder von etlichen Zellen sehen. Etliche Personen wanderten in ihren Zellen umher, aufgeschreckt von den Sirenen. Unsicher hob er seinen Blick von den Bildschirmen und sah sich suchend um. Niemand außer ihm und dem Drachen war zu sehen. Aus einem Reflex ging er zur Tür und schaltete das Licht an. Grellweiße Lichter fluteten den Raum und der Drache gab ein unwilliges Schnauben von sich, doch Leander war noch zu sehr damit beschäftigt, dass er noch lebte. Im Licht überprüfte er kurz seine Schulter und schluckte kurz heftig. Er brauchte später jemanden, der ihm das einigermaßen richten konnte, doch für den Moment hatte er größere Probleme. Wo auch immer die Wachmannschaft dieses Gefängnisses war, lange würde er sicher nicht warten müssen, bis sie ihn hier fanden. Wenn er also noch etwas herausfinden wollte würde er sich wohl oder übel schnell aus der Zentrale verkrümeln. Hoffentlich konnte er seinen Bogen noch spannen.

Der Aufbau erinnerte ihn stark an eine altertümliche Militärbasis. Leander runzelte die Stirn als er weiter den Raum scannte. Eine Zentrale ohne Angestellte. Wo waren die Wachleute? Hatte der Zeitorden etwas besseres gefunden? War hier vielleicht die Verschwundene aus Obsidian? Die Idee kam plötzlich, unvermittelt, doch irgendwie konnte er sich selbst nicht davon überzeugen. War es vielleicht wirklich Teil einer ehemaligen Zivilisation? Einer außerhalb Tanurs? Das Gebäude in dem er stand könnte der Beweis für andere Länder geben, von denen Tanur sich abgeschottet hatte? Vielleicht, vielleicht lebte der Autor des Weltenbuches ja bei ihnen. 

Er atmete einmal kurz durch, dann öffnete er mit einem Ruck die Tür. Ein steriler weißer Gang erstreckte sich in beide Richtungen und auf gut Glück schlug er einen Weg ein. Seine Schuhe verursachten auf dem glatten Boden nicht ein Geräusch und ein feiner Plan bildete sich in seinem Kopf. Wenn der oberste Zeitenjäger die Wachtruppe hier noch nicht aus dem Schlaf gerissen hatte, hatte er vielleicht noch eine Chance, auf ganz legale Art und Weise herauszufinden, wer hier wieso und von wem festgehalten wurde. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Geräusche an sein Ohr drangen. Ein kleines Lächeln bildete sich auf seinem Gesicht. Noch ein bisschen an seiner Kleidung zupfend und den gröbsten Dreck runterwischend ging er dem Geräusch entgegen.


Die Chroniken der ZeitenjägerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt