Waldwanderung

28 5 0
                                    

„Wie lange brauchen wir denn noch, bis wir die Station erreicht haben?" , nörgelt Jace neben mir herum. „Es war deine Idee, die Straßenbahn zu benutzen, also komm darauf klar!" , fauche ich leise zurück und verstärke meinen Griff um die Haltestange.
Die Straßenbahn ist fast genauso überfüllt wie die U-Bahn, aber hier hat man wenigstens nicht zehn Ellbogen bei jeder Kurve in den Rippen.
Erneut rutscht mir die Sonnenbrille ein wenig nach unten. Seufzend drücke ich sie mit meiner freien Hand wieder nach oben. Bis jetzt hat uns noch niemand aufgehalten und ich schicke alle zehn Sekunden ein Stoßgebet zum Himmel, dass das auch so bleibt.
Nach drei weiteren Haltestellen kommen wir endlich an unserem Ziel an und ich springe aus der stickigen Bahn. Ab hier ist es nur noch ein Kilometer bis zum Ende der Stadt.
Auf unserem Weg halten wir noch schnell in einem Supermarkt, wo wir einige Wasserflaschen, Obst und Brötchen kaufen, falls der Ausflug doch länger wird als geplant. Zum Glück hat Jace einen Rucksack bei seiner ersten Einkaufstour mitgenommen, sodass wir nicht lauter Tüten schleppen müssen.
Wir legen den Weg bis zum Ende der Stadt schweigend zurück und erst als wir einen Feldweg erreichen, ergreift Jace das Wort: „Bist du dir wirklich sicher, dass du die neue Wächterin werden willst?"
Genervt werfe ich ihm einen wütenden Blick zu: „Es ist mir scheiß egal, was du davon hältst! Ich werde das schaffen!." Beschwichtigend hebt er die Hände und verlangsamt dabei sein Tempo. „Hey, ich habe das nicht böse gemeint." , verteidigt er sich ruhig. „Wie denn dann? Anders kann man's von dir ja nicht erwarten." , blaffe ich ihn an. „Rose, hör zu." , beginnt er in einem geduldigen Ton und richtet seine Augen auf den wolkenlosen, strahlend blauen Himmel, „Du gehst eine echt große Verantwortung ein. Und die ganze Sache ist nicht gerade ungefährlich." „Worauf willst du hinaus, Jace?" , seufze ich ungeduldig und verschränke die Arme vor der Brust, „Es ist mir egal, ob du mich für unfähig und dumm hältst." „Das will ich doch gar nicht sagen." , widerspricht er mir und sieht mich aus seinen eisblauen Augen heraus mit einem Blick an, den ich noch nie zuvor bei ihm gesehen habe, „Ich denke nur, du könntest ein paar Verbündete brauchen, die dich dabei unterstützen."
Ein überraschtes Lachen entfährt meiner Kehle und ich mustere ihn prüfend: „Und an wen hättest du da gedacht? Außer Carol habe ich keine Mischmenschen als Freunde, du Leuchte." „Du hast mich." , erwidert er gelassen, „Und Zayn und Lori. Außerdem leitet dein Vater eine der weltweit besten Task Forces."
Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht: „Meinst du das wirklich ernst?" „Natürlich. Ich habe dir doch gesagt, dass ich Lügen hasse. Wieso sollte ich dich also anlügen?" , gibt Jace von sich, als würde er über die banalste Sache der Welt reden. „Danke. Das bedeutet mir wirklich viel." , gestehe ich ihm etwas verlegen und richte meinen Blick auf den Boden vor mir. Jace gibt ein zufriedenes Schnauben von sich. Vielleicht ist der Kerl ja doch nicht so übel.
Wir laufen noch ein ganzes Stück weiter, bis wir schließlich einen Wald erreichen. „Weißt du eigentlich, wo genau wir hin müssen?" , bohre ich vorsichtig nach, um ihn nicht zu verärgern. „Ja. Dein Vater hat mir extra noch einmal die Koordinaten geschickt, damit wir bloß nicht bei irgendeinem anderen See auf sie warten." , antwortet Jace, während er grübelnd vor sich hin sieht, „Bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als Luftlinie zu laufen." „Es gibt keinen offiziellen Weg? Muss das wirklich sein?" , entfährt es mir entsetzt. Ich habe eindeutig nicht die richtigen Klamotten für eine Waldwanderung an. „Es sei denn, du hast eine bessere Idee." , wirft Jace ein. „Die habe ich natürlich nicht." , erwidere ich genervt und starre das dichte Gebüsch an, in der Hoffnung, es würde unter meinem Blick im Boden versinken.
Entschlossen macht Jace einige Schritte auf das Dickicht zu und bahnt sich einen Weg durch das Gestrüpp. Seufzend folge ich ihm und bleibe dicht hinter ihm, um wenigstens ein klein wenig Schutz vor den herausragenden Ästen zu gewinnen.
Es dauert eine ganze Weile, bis wir eine schmale Lichtung erreichen. Erleichtert atme ich tief durch. Ein paar Kratzer von Dornen und anderen Sträuchern zieren meine Beine und Arme. „Alles okay?" , erkundigt Jace sich bei mir und ich bilde mir ein, so etwas wie Besorgnis in seiner Stimme mitschwingen zu hören. Sein Blick bleibt an meinen zerkratzten Beinen hängen. Schnell nicke ich mit dem Kopf. „Ja, mir geht's gut." , versichere ich ihm und laufe voraus, aber Jace hat mich mit nur zwei Schritten wieder eingeholt und geht neben mir her.
Ab und zu hört man Vögel zwitschern und das Laub der Bäume rascheln. Damals, als ich bei meinem Vater in einem kleinen Dorf gelebt habe, war ich oft außen in der Natur. Es war umgeben von Wäldern. Jetzt kommt mir der Wald wie ein neuer Ort vor, den ich nur aus Erzählungen und fernen Erinnerungen kenne.
Bevor ich noch einen Schritt weitermachen kann, hält Jace plötzlich inne und streckt den Arm aus. „Was ist los?" , frage ich leise, aber er sieht sich nur langsam um. „Wir sind nicht alleine." , flüstert er schließlich und zieht mich sanft hinter sich. Sofort spannt sich mein ganzer Körper an und ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt. Ohne es zu merken, halte ich den Atem an und konzentriere mich auf jedes noch so leise Geräusch. Und dann höre ich es. Ein lautes Knacken. Jemand oder etwas ist auf einen Ast getreten. Angst macht sich in mir breit und ich lasse meine Augen hin und her huschen. Eine erdrückende, furchterregende Stille breitet sich in dem ganzen Wald aus.
Plötzlich sehe ich aus dem Augenwinkel heraus etwas Dunkles, Gebücktes auf uns zu huschen. Je näher es kommt, desto größer wird es. Panisch schreie ich auf, wodurch Jace sich umdreht und es ebenfalls sieht. Seine Augen weiden sich leicht, ehe er blitzschnell reagiert und mich zur Seite schubst.
Ich strauchle ein wenig und komme schließlich unsanft einige Meter weiter weg auf dem Boden auf. Mit voller Wucht prallt Jace mit dem Wesen zusammen und geht mit ihm zu Boden. Es dauert kurz, bis ich erkenne, um was es sich handelt.
Aus wutverzerrten, dunkelroten Augen heraus und mit gefletschten, spitzen Zähnen schaut mich der 1.50 Meter große Werwolf an. Sein dunkles, schmutziges Fell glänzt in den vereinzelten Sonnenstrahlen, die durch das dichte Laub der Baumkronen fallen. Binnen Sekunden hat Jace sich in einen Werwolf verwandelt und jagt auf seinen Artgenossen zu. Sein goldenes Fell wirkt dabei so majestätisch wie das eines Löwen und er ist um einiges größer als der andere Wolf.
Mit ausgefahrenen Krallen springt Jace auf den Werwolf zu und die beiden verwickeln sich in einen ungeheueren Kampf, der von tiefem Knurren und schmerzerfülltem Aufheulen untermalt wird.
Zitternd springe ich auf die Beine und versuche krampfhaft, einen Weg zu finden, wie ich Jace helfen kann. Mein Gehirn rattert auf Hochtouren und ich sehe mich hektisch um. Mein Blick bleibt auf einem breiten, länglichen Ast hängen, der teils vom Laub bedeckt wird. Schnell schnappe ich ihn mir und umfasse ihn mit schwitzigen Händen. Noch immer rast mein Herz und ich zwinge meinen Körper, mir zu gehorchen.
Einige Sekunden lang beobachte ich die beiden kämpfenden Wölfe und warte auf eine geeignete Gelegenheit, unserem Angreifer den Ast über den Schädel zu ziehen. Jace scheint zu bemerken, was ich vorhabe, denn er schafft es irgendwie, seinen Gegner zu Fall zu bringen und springt dann schnell ein paar Schritte von ihm weg. Der Wolf schüttelt sich und setzt zum Sprung an.
In dem Moment, in dem er Jace an die Kehle springen will, lasse ich den Ast mit all meiner Kraft auf den Kopf des Wolfs niedersausen. Ich spüre kaum Widerstand und der Wolf sackt mit einem dumpfen Knall auf den Laubboden nieder. Jace gibt ein tiefes Knurren von sich und nähert sich ihm vorsichtig und mit zurückgelegten Ohren. Erst als er sich wirklich sicher ist, dass der Wolf besiegt ist, verwandelt er sich in seine Menschengestalt zurück.
Wie gebannt starre ich noch immer mit unkontrollierten Atem und klopfenden Herzen auf den bewusstlosen Wolf vor mir. Der Ast gleitet mir aus der Hand, doch seinen Aufschlag auf den Boden nehme ich gar nicht richtig wahr. Es ist Jace' warme Hand auf meiner Schulter, die mich aus meiner versteinerten Starre löst.
„Rose? Geht es dir gut? Bist du verletzt?" , überhäuft er mich mit Fragen und dieses Mal bin ich mir ziemlich sicher, dass er besorgt ist. „Keine Sorge. Mir geht es gut." , bringe ich keuchend hervor und merke, dass meine Kehle sich völlig trocken anfühlt, „Ist bei dir auch alles okay?"
Ein paar schmerzhaft aussehende Kratzer zieren Jace' sonst so makelloses Gesicht und seine Unterlippe ist an der Seite aufgeplatzt. Vereinzelt kleben ihm ein paar seiner goldblonden Strähnen ins Gesicht und sein Atem geht etwas schwerer als normal.
Nickend lässt er sich an einen Baumstamm niedergleiten. „Ich brauche nur eine Minute." , bringt er zwischen zwei tiefen Schnaufern hervor. Ich schnappe mir eine Wasserflasche aus seinem Rucksack und lasse mich neben ihm nieder.
Von seinem Körper geht eine angenehme Wärme aus und ich halte ihm aufmunternd lächelnd die Flasche hin. „Danke." , erwidert er und nimmt ein paar Schlucke, ehe er sie mir zurückgibt und ich auch etwas trinke. „Was machen wir mit dem da?" , frage ich schließlich und deute auf den reglosen Wolf vor uns. „Der wacht so schnell nicht wieder auf." , grinst Jace und holt ein Seil aus seinem Rucksack. „Wo hast du das denn her?" , entfährt es mir überrascht und ich beobachte ihn dabei, wie er alle vier Pfoten des Wolfs zusammenbindet und das Seil anschließend um einen Ast auf einen Baum wickelt und festschnürt. „Als wir im Supermarkt waren, dachte ich, es wäre nicht falsch, eins mitzunehmen." , meint er schulterzuckend und hebt den Rucksack vom Boden auf, „Wir sollten weiter. Der hier ist wahrscheinlich nicht der Einzige, der hinter uns her ist." „Aber was ist mit deinen Wunden?" , frage ich besorgt nach und rapple mich auf. „Ich bin ein Werwolf. Bis heute Abend sind die paar Kratzer wieder verschwunden." , grinst Jace mich an.
Skeptisch mustere ich ihn, ehe ich schulterzuckend meine Tasche vom Boden aufhebe und überprüfe, ob das Amulett noch da ist. Beruhigt umschließen meine Finger das kühle Gold. „Laut GPS sind wir noch sieben Kilometer von dem See entfernt." , informiert Jace mich und schließt zu mir auf. „Dann kommen wir vor Sonnenuntergang dort sicherlich nicht an." , seufze ich und schüttle gedankenverloren meinen Kopf. „Wir müssen trotzdem so schnell wie möglich weiter. Wer weiß, wieviele Mischwesen hinter uns her sind. Und wenn sie noch mehr Werwölfe auf ihrer Seite haben, werden sie nicht lange brauchen, bis sie uns eingeholt haben." , meint Jace grimmig, „Auf der Karte ist ein Fluss in der Nähe eingezeichnet, der in dieselbe Richtung führt, in die wir müssen. Wir können ihn benutzen, um unsere Spuren zu verwischen." „Aber wissen die nicht, wo wir hin wollen?" , wende ich stirnrunzelnd ein. „Nicht unbedingt. Sie könnten auch einfach nur unsere Fährte verfolgt haben. Wir Werwölfe sind verdammt gut in so was." , überlegt der Blondhaarige und schiebt ein paar tief hängende Äste zur Seite.
Vor uns erstreckt sich ein breiter Fluss, umrandet von dichten Gebüschen und Bäumen. Vorsichtig rutscht Jace die leichte Anhöhe hinunter und bleibt mit beiden Füßen bis zu den Knien im Wasser stehen. Noch bevor er tiefer ins Wasser gehen kann, fällt mir ein, dass er noch sein Handy im Rucksack hat. „Jace, dein Handy!" , rufe ich ihm zu und sehe zu ihm runter. Das erste Mal, dass ich auf jemanden herabsehe. „Mist!" , flüstert er und wirft mir den Rucksack zu, den ich geschickt auffange. „Ich glaub, ich hab noch die Plastiktüte vom Motel einstecken." , grüble ich nach und wühle in meiner Handtasche.
Tatsächlich finde ich sie zusammengefaltet in einem der hintersten Winkel der Tasche und ziehe sie heraus. Schnell verstaue ich unsere Handys, das Amulett und unseren Proviant darin und binde sie dann mit einem Haargummi - ebenfalls aus meiner Handtasche - zusammen. Dann stecke ich die Tüte in den Rucksack und werfe ihn mir über eine Schulter.
Langsam taste ich mich nach unten zum Flussufer und reiche Jace den Rucksack zurück. Dieser hält mir unterstützend eine Hand hin, die ich dankbar ergreife.
Das Wasser ist trotz der warmen Außentemperatur ziemlich kalt. Würde Jace mich nicht Schritt für Schritt immer weiter in die Mitte des Ufers ziehen, wäre ich immer noch am Rand des Ufers. Aber auch ihm scheint es nicht gerade leicht zu fallen. Ich kann deutlich spüren, wie sich seine Hand um mein Handgelenk leicht verkrampft.
„So müssen sie sich wenigstens aufteilen, wenn sie uns weiter verfolgen." , unterbricht der Blondhaarige die Stille und kämpft sich mühsam durch das eisige Wasser. Während es Jace bis zur Brust reicht, bin ich fast komplett im Wasser und schwimme neben ihm her. So werden wir nicht mal am Ende des Tags an unserem Ziel ankommen.
„Wer verfolgt uns jetzt eigentlich genau?" , frage ich ihn. „Keine Ahnung. Ich hab schon mal von kleinen Gruppierungen gehört, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, alle magischen Objekte zu finden. Vielleicht ist ja eine von denen hinter uns her. Dein Vater hatte schon öfters mit solchen Leuten zu tun." , überlegt Jace schulterzuckend, „Die Tatsache, dass sie sogar Werwölfe auf ihrer Seite haben, zeugt jedoch von einer ziemlich gut organisierten Gruppe." „Was genau waren die beiden Cops, die uns vor meiner Wohnung begegnet sind?" , hake ich verwirrt nach. „Auf jeden Fall keine Werwölfe. Sonst hätten sie sich verwandelt und hätten uns im Nu eingeholt. Außerdem haben sie nicht so gerochen. Von ihnen ging so ein beißender Gestank aus. Wie bei vergammelten Obst oder so." , erklärt er und gestikuliert dabei wild mit den Händen herum, „Verstehst du?" Kichernd nicke ich: „Ja, ich glaube, ich weiß, was du meinst."
Mit jedem Meter, den wir zurücklegen, wird es immer schwieriger und anstrengender, gegen die Strömung anzukommen und ich merke, wie meine Arme und Beine langsam schwer werden und mir allmählich die Kraft ausgeht. Auch Jace steht die Erschöpfung deutlich ins Gesicht geschrieben. „Wir sollten eine kleine Pause machen." , schlage ich zaghaft vor und sehe ihn abwartend an. Kurz scheint er, mit sich selbst zu kämpfen, ehe er einwilligt und sich zum rechten Ufer durchkämpft.
Erschöpft lasse ich mich einige Meter vom Fluss entfernt auf den Boden fallen. Ein leichtes Zittern breitet sich auf meinem Körper aus und am liebsten würde ich für ein paar Minuten einfach nur die Augen schließen. Oder für ein paar Stunden.
Jace sieht sich aufmerksam um, bevor er sich neben mich setzt und überprüft, ob die Tüte noch trocken ist. „Sieht so aus, als würde deine Idee funktionieren." , meint er grinsend und kramt sein Handy hervor, „Von hier aus sind es noch vier Kilometer." „Was?" , entfährt es mir fassungslos, „Wir haben erst drei Kilometer hinter uns?" „Der Fluss hat uns deutlich verlangsamt, aber so haben wir auch mehr Zeit gewonnen." , kommt es von Jace gelassen. „Ja schon, aber die Sonne geht in weniger als einer Stunde unter und dann werden wir kaum noch die eigene Hand vor dem Gesicht sehen." , wende ich stöhnend ein, „Außerdem glaube ich nicht, dass ich den ganzen Weg durchhalte, wenn wir weiter im Fluss herumwandern." „Wer hat denn gesagt, dass wir wieder im Fluss herumwandern?" , grinst Jace mich an und ich kann ein strahlendes Funkeln in seinen blauen Augen erkennen. Eine unangenehme Vorahnung macht sich in mir breit: „Was hast du vor?"

Magix - The golden AmuletWo Geschichten leben. Entdecke jetzt