Das Ritual

26 6 0
                                    

„Verdammt noch mal, Jace! Nicht so schnell!" , kreische ich und kralle mich dabei in das goldene Fell meines Begleiters. Jace, völlig in seinem Wolfswesen, gibt ein tiefes, hämisches Knurren von sich und ich kann mir gut denken, dass er gelacht hat.
Damit mir nicht zehntausend tiefhängende Äste mitten ins Gesicht klatschen, ducke ich mich und schlinge meine Arme um seinen Hals. Das Adrenalin rauscht durch meine Adern wie der Kaffee am Morgen und von meiner vorherigen Müdigkeit ist absolut nichts mehr übrig.
Doch Jace denkt nicht einmal im Traum daran, etwas langsamer zu werden. Stattdessen legt der 1.70 Meter große Wolf nur noch mehr an Geschwindigkeit zu und sprintet quer durch den Wald.
Bei jedem noch so kleinen Sprung, den er über umgefallene Bäume, Gebüsche oder Äste macht, gebe ich ein lautes Quietschen von mir und drücke mich nur noch mehr an ihn.
Aus Angst, mir könnte eine Biene oder sonst etwas in den Mund fliegen, beschränke ich mich auf die nötigsten Worte und schicke alle paar Sekunden ein Stoßgebet zum Himmel, dass ich diesen Höllenritt heil überlebe. Trotzdem hat es auch etwas Befreiendes an sich, auf einem Wolf durch den Wald zu reiten. Mein zehnjähriges Ich wäre bestimmt begeistert gewesen.
Endlich wird Jace etwas langsamer und ich entspanne mich augenblicklich wieder. Er verfällt in einen leichten Trab und springt nicht mehr über die Hindernisse, sondern weicht ihnen aus. Dankbar lockere ich meinen Griff um seine Fellbüschel ein wenig.
Ein kühler Wind weht uns entgegen und erst jetzt fällt mir auf, dass die Spitzen meiner Haare wieder zu ihrer alten Farbe gewechselt haben.
Dank der angenehmen Wärme, die von Jace' Wolfskörper ausgeht, friere ich nicht allzu sehr und das trotz Short und Top. Mittlerweile haben wir über die Hälfte unseres restlichen Weges zurückgelegt. Dennoch würden wir es nicht vor Sonnenuntergang zum See schaffen.
Mit der Zeit wird es immer dunkler und dunkler, bis kaum noch Licht durch das dichte Laub der Baumkronen fällt. „Wir sollten ab hier wieder normal weitergehen. Es ist nicht mal mehr ein ganzer Kilometer übrig." , schlage ich vor und schalte die Taschenlampe meines Handys ein.
Vorsichtig rutsche ich von Jace' Rücken runter und warte darauf, dass er sich zurückverwandelt. „Wir hätten auch ruhig noch so weitergehen können." , grinst er mich in seiner Menschengestalt an. „So verlockend das auch klingen mag, ich bin mir sicher, auch du hast irgendwann deine Grenzen erreicht. Außerdem ist es nicht mehr weit." , gebe ich augenrollend zurück, kann mir aber ein kleines Lächeln nicht verkneifen. „Also im Vergleich zu manch anderen bist du ein Fliegengewicht." , erwidert er gelassen und schnappt sich den Rucksack, den ich ihm entgegenhalte. „Kann schon sein, aber ich will dich trotzdem nicht überbelasten. Sonst haben wir ein echtes Problem, falls uns diese komischen Typen doch noch einholen." , seufze ich. „Da könntest du recht haben." , stimmt Jace mit ausnahmsweise zu, „Ich ruf Zayn an. Mal schauen, wie weit die anderen schon sind."
Nickend bahne ich mir einen Weg durch den dichten Wald, wobei ich Jace' warmen Atem ab und zu in meinem Nacken spüren kann. Ich bin so fokussiert auf meine Umgebung und die Geräusche, dass ich sein Telefonat völlig ausblende.
„Die anderen warten bereits am See auf uns." , holt mich Jace aus meiner Konzentration zurück, „Sind aber auch erst vor einer halben Stunde angekommen." „Geht's allen gut?" , erkundige ich mich bei ihm. „Ja. Keine weiteren Schwierigkeiten. Die Task Force ist auch dabei. Zur Unterstützung." , antwortet er und hält einige Äste nach hinten, sodass sie mir nicht mitten ins Gesicht schnalzen. „Klingt gut. Je mehr wir sind, desto besser stehen die Chancen für uns." , gebe ich erleichtert zurück. „Was genau meinst du damit?" , hakt Jace verwirrt nach und wirft mir einen irritierten Blick zu. „Na ja, wir wissen nicht, mit wem wir es zu tun haben, geschweige denn mit wie vielen. Wenn wir Carol und Savannah mit einrechnen, wären wir zu siebt. Darunter vier, die einigermaßen kämpfen können. Mit der Task Force haben wir definitiv eine stärkere Verteidigung." , zähle ich nüchtern betrachtet auf. „Seit wann so pessimistisch?" , kommt es von meinem Nebenan in einem neckenden Ton. „Ich bin nicht pessimistisch, sondern realistisch." , kontere ich wie aus der Pistole geschossen, „Da gibt es einen kleinen, aber feinen Unterschied." „Wenn du das sagst. Optimistisch hast du mir auf jeden Fall besser gefallen." , meint der Blondhaarige beiläufig.
Seufzend bleibe ich stehen und sehe ihn mit verschränkten Armen an: „Was wird das? Willst du jetzt wieder von nett zu Arschloch wechseln? Tut mir leid, Jace, aber ich hab dafür gerade echt keinen Nerv übrig."
Entgegen all meiner Erwartungen beginnt er jedoch nicht eine Diskussion, sondern setzt ein Lächeln auf. Ein ehrliches Lächeln: „Das war nicht böse gemeint, Rose. Ich will nur nicht, dass du dich für so ein bescheuertes Amulett veränderst." „Ach wirklich? Wieso sollte ich? Und was interessiert es dich überhaupt?" , platzt es aus mir in einem gigantischen Redeschwall heraus. Zugegeben, nett klinge ich dabei nicht wirklich und ich verhalte mich auch nicht beosnder fair Jace gegenüber.
Doch noch bevor er etwas erwidern kann, vernehmen wir beide ein lautes Knacken hinter uns. Wir fahren gleichzeitig herum und sofort hat Jace sich in seine Wolfsform verwandelt.
Beschützend stellt er sich vor mich, legt die Ohren an und gibt ein tiefes Knurren von sich. Automatisch schaltet mein Körper auf Anspannung um und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Mit einer langsamen Bewegung hebe ich den Rucksack vom Boden auf und drücke ihn fest an mich, als wäre er das Einzige, was mich noch am Leben hält.
Ein lautes Heulen durchfährt den stillen Wald und jagt mir einen eiskalten Schreckensschauer den Rücken hinunter. Binnen Sekunden sitze ich auf Jace' Drängen hin auf seinem Rücken und kralle mich in sein Fell. Ohne zu zögern, sprintet er los, wobei einige Äste mein Gesicht streifen. Schnell ducke ich mich und vergrabe mein Gesicht schützend in seinem Fell. Erneut schallt ein schrilles Jaulen durch die Bäume und ich zucke ängstlich zusammen.
Es grenzt an ein Wunder, dass wir es in einem Stück auf die schmale Lichtung schaffen. In der Ferne kann ich trotz der Dunkelheit den See erkennen und Erleichterung macht sich in mir breit. Von den zwei geparkten Autos geht helles Scheinwerferlicht aus, das durch die dahinter geparkten Transporter noch zusätzlich verstärkt wird, und als wir in Sichtweite kommen, gibt Jace ein lautes Heulen von sich.
Ich entdecke mehrere Personen, die uns einige Schritte entgegeneilen, darunter Lori, Zayn und mein Vater. Hinter ihnen hat sich eine Gruppe voll ausgerüsteter Task Force Mitglieder aufgestellt. „Rose, Jace!" , ruft Lori uns zu und winkt uns zu sich.
Ohne an Tempo zu verlieren, prescht Jace auf sie zu und erst als wir an ihnen vorbei sind, bleibt er ein paar Meter vor den Autos stehen.
Unbeholfen rutsche ich von Jace' Rücken herunter und werde sofort von Lori in eine kräftige Umarmung gezogen. Eine weitere Person schließt sich uns an und bereits an dem mir allzu vertrauten Vanillegeruch kann ich erkennen, dass es sich dabei um Carol handelt. „Zum Glück geht es dir gut." , flüstert sie und drückt mich fest an sich. „Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht." , fügt Lori hinzu. „Und was ist mit mir?" , ertönt eine Stimme hinter uns.
Jace steht zurückverwandelt vor uns mit einem schiefen Lächeln. Sein Atem ist etwas ungleichmäßig, doch das hält Zayn nicht davon ab, ihm kräftig auf den Rücken zu schlagen. „Von dir war ja nichts anderes zu erwarten." , lacht er und erntet einen gespielt grimmigen Blick von seinem Gegenüber.
Der glückliche Moment dauert leider nicht sehr lange an, denn keine zehn Sekunden später hört man einen Mann aus der Task Force „Werwölfe auf acht Uhr" rufen.
Alarmiert drehen wir uns um. Von Weitem sehe ich dunkle Gestalten in einem Affenzahn auf uns zustürzen, kann aber nicht ausmachen, wieviele es sind. „Jace, halte dich zurück!" , kommt es bestimmend von Zayn, ehe er sich in einen etwa 1.65 Meter großen Wolf mit schokoladenbraunem Fell verwandelt. Seine Zwillingsschwester tut es ihm gleich und die beiden schnellen nach vorne.
Die Nacht wird von widerhallendem Geheule durchfahren. „Rose, Savannah ist hinter den Wagen. Sie hat bereits mit den Vorbereitungen angefangen. Geh zu ihr! Jace, pass solange auf sie auf!" , befiehlt Carol und wendet sich ebenfalls unseren Angreifern. „Carol!" , rufe ich ihr nach, woraufhin sie kurz stehen bleibt und mich lächelnd ansieht. „Sei bitte vorsichtig." , gebe ich kaum hörbar von mir, aber sie hat es trotzdem gehört und nickt: „Keine Sorge. Ich habe doch mit dir diesen einen Selbstverteidigungskurs gemacht." Ein leises Lachen entfährt mir und ich renne nach hinten.
Savannah steht in einem weißen Gewand, das im Wind flattert, in einem Kreis aus weinroten Flammen. Erschrocken halte ich inne, wobei Jace von hinten leicht gegen mich kracht. „Was ist? Alles okay?" , fragt er besorgt und ich spüre seine Hand an meinem rechten Oberarm. „Die Flammen werden dir nichts tun, Rose." , vernehme ich Savannah's ruhige Stimme.
Aufmunternd sieht sie mich aus ihren stahlgrauen Augen heraus an und reicht mir eine Hand, wobei sie die Flammen streift, doch nichts passiert. Mit klopfendem Herzen ergreife ich ihre Hand und laufe zögernd durch die tanzenden Flammen hindurch. „Hey, Rose. Das hier wirst du brauchen." , kommt es von Jace und er wirft mir das Amulett über den Feuerring hinweg zu. Ich fange es auf und lächle ihn dankbar an, bevor ich mich wieder Savannah zuwende.
Das Getöse um uns herum blende ich unbewusst vollkommen aus und ich konzentriere mich voll und ganz auf das Hier und Jetzt. „Rose Dawson, Tochter von Vanessa O'Bryan und John Dawson. Schwörst du bei deinem Leben, bei deiner Liebe und bei deiner Ehre, das Amulett des obersten Rates der Hexen mit deinem Leben, deinem Körper und deiner Seele zu beschützen?" , beginnt Savannah mit lauter Stimme und ein Schimmer hellgrüner, tanzender Fünkchen breitet sich um ihren Körper herum aus und wirbelt ihre Haare auf. Die Flammen um uns herum gewinnen an Höhe und zischen wild von einer Seite zur anderen.
Ein warmes, seltsam vertrautes Gefühl macht sich in mir breit. „Ich schwöre." , antworte ich mit fester und entschlossener Stimme. „Im Namen aller Hexen auf diesem Planeten ernenne ich dich, Rose Dawson, zu der neuen Wächterin des Amuletts des obersten Rates der Hexen." , fährt Savannah fort und legt mir das Amulett um den Hals.
Ein sanftes Prickeln breitet sich auf meiner Haut aus und für einen Moment wirkt es so, als wäre ich in eine andere Galaxie eingetaucht. Vor mir sehe ich meine Mutter mit ihren langen, dunkelroten Haaren und zum ersten Mal entdecke ich die etwas hellere, kupferrote Strähne in ihrer dichten Haarpracht. Ein Lächeln ziert ihre zart rosa Lippen und ihre blasse Haut wirkt wie aus Glas. Anstatt die kühle Nachtluft zu spüren, durchfährt mich ein warmes Gefühl und umgibt mich wie eine weiche, kuschlige Decke.
Viel zu schnell werde ich wieder in die Realität zurückgezogen und das Bild von meiner Mutter löst sich vor meinen Augen in Luft auf, aber das Lächeln auf ihren Lippen bleibt bis zum Schluss bestehen.
„Rose? Rose?" , dringt Savannah's zarte Stimme zu mir hindurch und ich blinzle ein paar Mal, um mich zu fangen. Als ich wieder komplett bei mir bin, sitze ich auf dem Grasboden. Der Flammenring um uns herum ist erloschen und auch die Wärme ist verschwunden, doch kalt ist mir trotzdem nicht.
Ich spüre, wie das Amulett um meinen Hals herum leicht pulsiert und erhebe mich vorsichtig. Erst jetzt sehe ich die kleinen, roten Funken, die meine Hände und Arme umgeben, als wäre ich ein Magnet und würde sie anziehen. „Wow." , hauche ich und bewege meine Hände langsam. Wie der Schweif einer Sternschnuppe wandern die Fünkchen hinterher. Lachend bewege ich mich noch einmal und wieder passiert das Gleiche. „Das ist deine Magie, Rose." , lächelt Savannah mich an.
Überglücklich umarme ich sie: „Danke. Für alles." „Gerne." , erwidert sie und legt sanft ihre Arme um mich, „Deine Mutter wäre stolz gewesen."
Augenblicklich erinnere ich mich wieder an das Bild, welches ich vor einigen Minuten noch vor Augen gehabt habe. Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich mich so glücklich und verbunden gefühlt wie jetzt.
„Tut mit leid, wenn ich den Moment zerstöre, aber wir sollten den anderen vielleicht ein wenig helfen." , unterbricht Jace den Moment mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck.
Schnell löse ich mich von Savannah und drehe mich zu dem Blondhaarigen um. Für den Bruchteil einer Sekunde treffen sich unsere Blicke und die Welt um uns herum scheint stillzustehen. Mein Herz setzt einen Schlag aus, bevor mich ein lautes Heulen aus meiner Trance reißt. „Du hast recht." , stimme ich ihm zu und renne nach vorne.

Magix - The golden AmuletWo Geschichten leben. Entdecke jetzt