Salomea schlug die Augen auf. Instinktiv griff ihre rechte Hand auf den Nachttisch aus Kiefernholz neben ihrem Bett und legte sich um einen kleinen, rohen Stein. Er war elfenbeinfarben, hatte überall Kanten und brüchige Risse. Das Besondere an diesem Stein war seine Oberfläche. Sie leuchtete pfirsichrot, kleine Stäbe aus Kristall, die aussahen, als hätte sich ein Korallenriff auf diesem alten Gestein niedergelassen. Tagsüber brach auf diesen Korallen das Licht, wodurch es aussah, als würden tausende von winzig kleinen Sternen auf ihnen tanzen. Dieses Wunder war ein Vanadinit, das wusste Salomea. Man lernte ihr die Bestimmung verschiedener Heilsteine als sie noch ein kleines Mädchen war. Auch zeigte man ihr welche Pilze sie sammeln durfte oder welche gifitg waren und schlimmstenfalls sogar zum Tod führen konnten. Man erzählte Geschichten ihrer Vorfahren, der ersten Waldkinder, die sich in ihr Wissen prägten. Salomea wurde gelehrt wie man kranke Tiere heilt, mit welchen Kräuter man offene Wunden schließt, die aus harten Speerspitzen entstanden sind als man die Rehe, Füchse und Hasen jagte. War es Benediktenkraut, Huflattich oder Myrrhe? Das Mädchen mit den langen, feuerroten Haaren wusste es immer.
Stets lauschte sie, was Elspeth die Weise, das älteste und klügste Weib ihres Clans, zu sagen hatte. Die knochige Frau trug nie ein Lächeln auf ihren schmalen Lippen. Man munkelte das stünde ihr nicht. Vielleicht lag dies daran, dass sie zu viel in ihrem langen Leben gesehen hatte. Ihre Augen sahen wie Gott ihre einzigen drei Kinder nahm, indem er die Wildpocken über sie herziehen lies. Sie roch verbranntes Heu und Lehm, als ihre Hütte von Krostoxs niedergebrannt wurde und hörte ihren Mann schreien, für den das Leben in dieser Nacht ein Ende nahm. Als sie darum trauerte, niemals wieder eine Familie zu haben, beschloß sie ihrem Leben einen Sinn zu geben. Sie wurde von den alten Göttern der Wälder zur Weisen gelehrt und anerkannt, damit sie ihr Wissen an die Unerfahrenen tragen konnte. Mit der Zeit schlossen sich ihre Wunden, doch sie blieb ein vernarbtes Wesen.
Salomea erwischte sich dabei wie sie an die müden Augen dieser Frau dachte, als sie völlig erschöpft aufwachte. Diese müden Augen... Erschrocken nahm sie die Welt um sich herum wieder wahr. Ihr Körper war warm vor Aufregung und fühlte sich an als würde er jeden Moment Feuer fangen. Ein bösartiges Feuer, welches über ihre grobe Wolldecke, den Webteppich am Boden bis hin zu den massiven Kieferregalen am Ende ihrer Kammer kriechen und alles lodernd verspeisen würde was dazwischen läge. Obwohl sie glühte, spürte sie dass der Schweiss auf ihrer Stirn eiskalt war. Ihre hüftlangen Haare klebten nass und strähnig an ihrer Stirn. Sie schlug die Decke auf und erhob sich. Im Mondschein, der durch das Glasfenster aus bunten Scherben in ihr Zimmer glimmte, leuchtete ihre blasse Haut wie frischer Schnee an einem Wintermorgen.
"Ich habe nur geträumt. Es war ein Traum. Nichts weiter.", dachte das Mädchen, als es barfuß und nackt an ihr Fenster tappte. Sie fuhr mit ihrem Zeigefinger an den Scherben entlang, die man aus zerbrochenen Gläsern, Kronleuchtern und Vasen zu einem Werk geschmolzen hatte. Grasgrün, rubinrot, sonnengelb, marineblau, ein violett das schimmerte wie ein reiner Amethyst...Salomea gefiel dieses Farbspektakel, genauso wie ihr der Gedanke gefiel dass dieses Fenster aus kaputten Dingen geschmiedet worden war. Es gab ihr Hoffnung. Hoffnung, dass aus jeder gebrochenen Seele etwas Neues, Starkes wachsen kann. Auch wenn dieses Neue einen Schmied braucht der dabei hilft. Sie lehnte ihren Kopf an das kalte Glas und überlegte wer ihr Schmied sein mochte.
Vor ihr erstreckte sich eine große Wiese in der dutzende kleine, grasbewachsene Hügel ihre Dellen legten, als hätte sich ein riesiger Maulwurf darunter den Kopf angestoßen. Die mit Blätter bedeckten Lehmhütten schienen mattgrün im Licht des Vollmondes. Rund um das Dorf ihres Clans, der Koshari, reihten sich himmelhohe Fichten deren Rinden klebrig vom Harz und Baumstämme dünn wie aus dem Boden sprießende Finger waren. Ihr Blick schweifte von der Hütte der Murias über die Kühe die vor den Ställen grasten, da die Geräusche des Waldes sie unruhig stimmten, von dort an weiter über den kleinen Bach indem die Kinder der Hotzins an warmen Sonnentagen fröhlich umher planschten, bis hin zu dem grellen, kleinen Kerzenlicht welches von der Kammer des hübschen Pawl aus der Hütte gegenüber strahlte, der sich nachts stets in seinen alten Büchern über die schwarze Magie verlor...es war eine eigene kleine Heimat, mitten in der Wildnis.
"Salomea." Es war eine Aufforderung, eine bittere Kälte versteckt hinter Worten. Erschreckt fuhr das Träumermädchen herum und bedeckte kurzerhand ihren nackten Körper, indem sie sich ein braunes, dreckiges Leinengewand überwarf, welches auf ihrem Fenstersims lag. Noch bevor ihr klar wurde wessen Stimme nach ihr rief, sah sie ihn. Er sah aus wie ein Wilder, so wie er da stand. Er trug lediglich einen fetzen Stoff um die Lenden, der einmal eine prächtige, handgewebte Wollhose war. Auf seinen Oberschenkeln zeichneten sich tiefe Umrisse seiner Muskeln ab. Sein Oberkörper war nackt, mächtig und glänzend vom Schweiß, überzogen mit Narben. Dünne Narben, tiefe Narben, Narben von Dolchen und auch die, die man sich selbst mit einer heißen Klinge hinzufügte, um seinem Heer zu beweisen wie stark man sei. Seine Augen schimmerten grün wie die edelsten Smaragde, doch sein Gesicht war dreckig und voll verkrustetem Blut. Seine Haare waren kurz geschoren, doch er trug einen dichten Bart im Gesicht, welchen er zu einem Zopf geflochten hatte.
"Zacharas!" Das Mädchen rannte auf den Kämpfer zu und er empfing sie, indem er sie an den Hüften packte und an sich drückte wie ein Kind. Aus dem ernsten, blutrünstigen Mann, der so eben noch mit scharfer Miene in die Hütte maschierte, wurde auf einmal ein liebevoller Gatte. Er hielt Salomea in seinen starken Armen während sie galant ihr Gesicht an seine Brust schmiegte als wäre sie eine Katze. "Mein Krieger, mein König, mein Löwe," schnurrte sie zufrieden.
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Blut des Waldes
FantasyZwischen den dichten Fichten und rauschenden Flüssen des Waldes hausen die Menschen des reinen Blutes. Die Menschen, die eins mit der Natur sind. Dies ist die Einführung in eine Welt voller Blut, Natürlichkeit, Intrigen und Krieg, Clan um Clan. Alle...