Kapitel 3. - Wasser

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In dem Regentropfen, der sich tapfer an einem Grashalm festklammerte, spiegelten sich die grünen Facetten des Waldes. Herzförmige, olivgrüne Blätter. Moos, dass sich in einem matten schwarzgrün aus dem Flussbett erhob, verborgen zwischen kleinen Kieseln und Schwärmen von Karpfen. Tannen, die leuchteten wie die mondänsten Smaragde die je ein Auge erblickte. Eine Reihe von dunkelgrünem Efeu wuchs einen Felsbrocken entlang, der mitten im Wald lag, als hätte ihn ein Riese dort fallen gelassen. Scheu huschte ein Rehkitz vorbei und versteckte sich hinter einer massiven Eiche. Es war kastanienbraun und seinen Rücken zierten kleine, weiße Punkte, die aussahen, als hätten sich Schneeflocken auf dem Sprössling verirrt, obwohl die Sonne unnachgiebig auf die Erde strahlte. Es war warm. Zu warm. Schon seit Jahrzehnten hatte der Süden nicht mehr unter solch einer Dürre gelitten. Das Wild floh in kältere Gebiete, in denen es mehr Wasser und somit auch mehr zu fressen gab, egal ob Pflanzen oder kleinere Artgenossen. 

"Wenn das Wild flieht, hungern die Kinder", flüsterte die alte Abaja, die Stimme voller Sorge, als sie mit Janika den Weg entlang ging, der vor unzähligen Sonnenaufgängen in die Erde des Waldes festgetrampelt wurde. Abajas blinde Augen sahen nichts mehr, also musste Janika, Erbe der Roisgards, sie stützen und führen. Dem jungen Mädchen machte das jedoch nichts aus. Gerne lief sie barfuß durch den Wald, die schwüle Erde unter den Fußsohlen, der Geruch von Harz und frischem Wasser in der Nase, eine Briese Wind in ihren Haaren. Wenn sie spazieren war, konnte sie alles vergessen, die Welt um sie herum stand für wenige Augenblicke still. Wenn sie vergaß, war sie glücklich.

Vor weniger als einem Jahr trabten die Reiter der wilden Sieben auf ihren scheußlichen Berglöwen in Janikas Dorf um zu plündern. Nie zuvor waren die Hunde der Krostoxs', wie man sie in ihrer Sippe nannte, so nah in den Süden galoppiert. Der Angriff kam überraschend wie ein Sturm und niemand konnte ihn erahnen. Natürlich hörte man die Geschichten und Gräueltaten der Sieben, jedoch wagte man es nicht zu denken, diese könnten einmal den eigenen Leib betreffen. Goldschmuck, Seidenrollen und frische Nahrungsvorräte wurden geraubt. Die Berglöwen rissen Rinder, die auf der Lichtung des Waldes grasten. Hütten wurden angezündet und Frauen geschändet. Der Clan der Eldors zerbrach in nur einer einzigen Nacht. Janika sah, wie Rhashat, der Anführer dieser Meute, ihren Vater in den Dreck stieß und ihn anschließend mit seinem Dolch durchbohrte. Eloah, ihrer geliebte Mutter, wurden die Kleider vom Leibe gerissen. Man hatte sie auf einen Wagen gespannt und präsentiert wie ein Stück Fleisch, ehe Olonkos, der klobige Riese, sie aufschlitzte. Als die Krostoxs wüteten und lachten versteckte sich das kleine Mädchen hinter einem leeren Weinfass, neben der Schenke, zitternd wie Espenlaub. Sie zählte zu dieser Zeit noch nicht einmal ihr achtes Lebensjahr. 

Eine Träne rann über Janikas weiße Wange und hinterließ eine lange Spur, die sich durch den angetrockneten Schmutz schlang wie eine nasse Natter. Sie rümpfte die Nase und ärgerte sich. "Wieso nur? Wieso muss ich immer heulen wie ein kleiner Säugling? Ich bin kein Säugling!", dachte das Kind, wütend auf sich selbst. Sie war hier, im Jenseits, mit der gebrechlichen Abaja eingehakt in ihrem Arm, nicht in diesem brennenden Dorf, dass sich einst ihre Heimat nannte. Das war vorbei. "Herzchen, bitte hilf mir", bestand die dünne Stimme der alten Frau, die mit den Schnüren ihres Mieders zu kämpfen schien. Heute war Badetag. Sie waren schon an der heißen Quelle angelangt, stellte Janika fest, erschrocken über ihre Achtlosigkeit. Ihre Vergangenheit hatte sie wieder verschlungen, wie so oft davor. Mit geschickten Händen schnürte sie das grobe Mieder auf und half Abaja in das sprudelnde Wasser. Die Quelle war eine Lache aus grobem Stein, am Kopfe ein Wasserfall durch den das blaue Gold stets hinein floss. Direkt darunter befand sich Lavagestein, weshalb das Wasser immer heiß und dampfend war. 

"Sie sieht aus wie eine schrumpelige Pflaume", fand Janika, als sie das Weib so betrachtete. Ihr graues Haar fiel glatt und strähnig über ihre knochigen Schultern. Das Kind hörte Abaja ein Lied summen und alle Gedanken waren fort. Vor ihren Augen breitete sich ein Spektakel des Grauens aus. Brennende Fackeln. Glühende Klingen. Das aufgerissene Maul eines Berglöwens. 

"Der Mond ist da, er scheint so hell

doch bringt er Kund von Blut.

Der Mond ist da, flüchtet schnell,

den Reitern packt die Wut."

Nackte Haut. Ein morscher Wagen. Klaffende Wunden.

"Der Mond ist da, schaut nur her

er zeigt euch wer ihr seid.

Der Mond ist da, schaut nicht weg

schon heute seid bereit."

Leere Augen. Schallendes Gelächter. Aufwirbelnder Dreck. 

"Der Mond ist da, habt ihr Angst?

Seid ihr in großer Not?

Der Mond ist da, habt ihr Angst?

Bald seid ihr alle to...."

"AUFHÖREN!" Janika rang nach Luft. Ihr Körper bebte. Sie schrie. Sie schrie und hörte nicht mehr auf. Um sie herum verschwamm die Welt. Das letzte, dass sie wahr nahm, waren die schwarzen Raben die erschrocken durch das Luftmeer flogen und den Geschmack von warmen, rotem Blut auf den Lippen. 

Blut des Waldes Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt