Kapitel 5. - Fall

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Alles um sie herum drehte sich. In ihrem Kopf hämmerte es fürchterlich, ihre Glieder waren schwer. Janika versuchte, sich auf ihre Ellenbogen abzustützen, doch sank augenblicklich wieder zu Boden. Wieso war sie nur so schwach? Was war passiert? Verwirrt probierte sie, ihre Gedanken zu ordnen. War sie vielleicht auf dem matschigen Boden ausgerutscht und hatte sich den Kopf angeschlagen? Instinktiv griff ihre Hand an die brennende Stelle ihres Hinterkopfes. Erschrocken zog sie sie wieder zurück. „Blut“, murmelte sie leise, als sie die klebrigen, roten Flecken auf ihrer Haut betrachtete. Das Mädchen schien tatsächlich gefallen zu sein...oder auch nicht? Nein, das war sehr unwahrscheinlich. Nie fiel sie. Stets tänzelte sie galant mit nackten Füßen über den Waldboden, wich jedem ach so kleinen Stock und Kieselstein aus und sprang über tosende Bäche.

„Janika! Du bist wach!“, ein dürrer Bursche mit zerzausten Haaren hüpfte auf das Strohbett, auf dem sie lag, gab sich Mühe den Berg von Kissen und Fellen zu erklimmen. Wild viel er ihr um den Hals und riss ihr dabei versehentlich ein paar Haarsträhnen heraus. „Charlie“, flüsterte Janika erschöpft, immer noch regungslos daliegend.

Charlie war Sohn der Dronsteins. Er war ihr einziger Sohn. Alle anderen ihrer Säuglinge starben schon im Kindesbett, da sie zu schwach waren und nicht an Mutters Brust nuckelten. Maggy und Krona Dronstein verarbeiteten nie diesen Schmerz, den ihre toten Lieblinge ihnen bescherten. Als sie sahen, wie Charlie als einziges Kind überlebte, waren sie bereits zerfressen von Kummer und Leid. Niemand wusste wieso, doch sie verstießen ihren Sohn, behaupteten er wäre nicht ihr eigen Fleisch und Blut, sondern ein Werk der Dämonen. Ihr Verstand war hohl und ihre Herzen leer. Sie versuchten Charlie zu töten, ihm im Schlaf den Atem mit einem Kissen zu rauben, doch er wand und schlang sich aus dem Bett und rannte fort. Nicht eine Sekunde schaute er zurück. Er sah nicht, wie seine Eltern vor der Tür seiner Hauses standen. Und das erste Mal, seit der Tod das Haus seiner Familie heimsuchte, lachten sie. Ein ekelhaftes, verrücktes Lachen, ohne jegliche Liebe. Am meisten Klang es nach einem zufriedenen Grunzen.

Janika wunderte sich nicht, wieso er überlebt hatte. Er war für seine sieben Jahre stark, tapfer und außerordentlich wild. „Nicht einmal meine Faust könnte ihn bändigen!“, schrie ein Bauer ihres Dorfes eines Nachts zu seinem Weib, als Charlie zuvor seinen Kessel voll Kuttelsuppe vom Feuer stieß und in den Wald hüpfte, gackernd vor Belustigung. Sie mochte Charlie sehr. Er brachte sie immer zum Lachen, wenn sie es am meisten wollte. An dem Morgen, an dem sie den Knaben fanden, mit zerfetzten Klamotten, wunden Augen und halb erfroren, nahmen sie ihn im Clan der Namenlosen auf. Nur der, der keine Familie mehr hatte, konnte hier verweilen. Sie richteten dem Jungen ein Strohbett her, gaben ihm dicke Decken und einen Teller warmes Pökelfleisch, derweil die alte Abaja sich um seine Wunden kümmerte. Auf seiner Flucht rannte er durch dutzende Dornenbüsche, bis seine Haut übersät von Stichen und Wunden war und er aussah, als würde sein ganzer Körper bluten. Die Weise wusch seine Verletzungen und gab ihm den Saft süßer Kräuter, die seinen Schmerz linderten. Betrübt von der Geschichte des Jungen und trotzdem glücklich, einen neuen Spielkameraden gefunden zu haben, saß Janika damals auf seiner Bettkante, und wartete darauf, dass er aufwachte. Genau so, wie er es heute bei ihr tat.

 „Ich dachte schon, du willst ewig schlafen!“, jammerte Charlie und ging neben ihr in den Schneidersitz. „Was ist denn passiert?“, die Stimme des kleinen Mädchens war dünn und eintönig. „Du bist in Ohnmacht gefallen.“ Eine alte Stimme ertönte am Ende des Raumes. „Wieso? Wie ist das passiert, Abaja? Mein Kopf tut schrecklich weh“, klagte sie. „Ich weiß es nicht, mein süßes Kind.“, erwiderte sie mit schmalen Lippen und betrat das Zimmer.

Mit leisen Schritten tappte die alte Frau über den Steinboden, zog den schweren Saum ihres Gewandes hinter sich her. Es war wunderschön, ein Traum aus eisblauer Seide. Es strahlte Energie aus und ließ Abaja strahlen, als würde sie vor Kraft nur so strotzen, obwohl sie schon lange ihr achtzigstes Jahr auf dieser Erde erreicht hatte. Im Allgemeinen sah sie jung und lebendig aus. Ihr Gesicht war markant, und obwohl sich die Haut dünn über das Fleisch zerrte, besaß sie kaum Falten. Ihr Haar war grau, mit weißen Strähnen durchzogen und reichte bis zu ihrer Taille. Von Statur war sie schmal und knochig, doch besaß sie Stärke und Anmut.

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