Semi x Shirabu

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Er war gerade dabei seinen Schlüssel ins Schloss zu stecken, als er Gitarrenklänge aus der Wohnung vernahm.
Klimperte der Idiot etwa immer noch an seinem Instrument herum, während um ihn die Welt unterging? Das war doch nicht zu fassen! Er arbeitete sich den Arsch ab und Mister Ich-will-ein-bekannter-Musiker-werden vertrödelte die Zeit in Jogginghose und ungewaschenen Shirts? Sein verblödeter Freund hatte für diese hirnrissige Idee sogar seinen sicheren und gut bezahlten Job als Verwaltungsfachangestellter an den Nagel gehängt! Das war etwa zwei Monate vor dem Lockdown gewesen. Jetzt bekam er als Künstler natürlich keinen Cent mehr, weil alle Veranstaltungen abgesagt wurden. In seinem vorherigen Job hätte ihm noch nicht mal die Kurzarbeit etwas anhaben können. Wie konnte man nur so dumm sein? Wieso hatte es ihm nicht gereicht, die Musik einfach nur als Hobby fortzuführen?

Nun saßen sie hier in ihrer verdammt teuren Wohnung fest, die sie sich jetzt eigentlich gar nicht mehr leisten konnten. Und nur, weil Semi die glorreiche Eingebung hatte, seinen Beruf zu kündigen!
Shirabu konnte sich noch genau daran erinnern, wie der Ältere ihm vorgeschwärmt hatte, wie viel Geld er nun verdiente und dass eine Wohnung unter diesem Standard gar nicht in Frage kam. Eita wollte nur das Beste für ihr Eigenheim. Hatte ja wunderbar funktioniert bis hierher.
Sie waren schon ein ungleiches Paar. Er, ein Medizinstudent in den letzten Zügen und sein Freund, ein hoffnungsloser Idiot.

Wenn der Trottel nicht wenigstens das Abendessen vorbereitet hatte, konnte er ein Donnerwetter erwarten.

Durch seine Gedanken völlig aufgekratzt stieß er mit etwas mehr Gewalt als nötig die Tür zu ihrem zu Hause auf. Die Musik verstummte sofort.
Er zog sich die grauen Sneaker aus und ging dann wortlos mit seinen Hausschuhen in die Küche.
Es roch zumindest nach Essen. Irgendetwas hatte der Ältere also versucht zu kochen.
Doch im Raum angekommen, erwartete ihn pures Chaos. Übereinander gestapelte Töpfe mit einer undefinierbaren Flüssigkeit. Benutzte Messer und Löffel lagen querbeet über die Arbeitsplatte verteilt. Auf dem Herd zwei Pfannen, die ein bisschen verbrannt aussahen. Er würde diesen Saustall definitiv nicht sauber machen.
Seine Laune sank weiter in den Keller. Nach dem Zustand der Küche zu urteilen würde er heute nichts richtiges mehr in den Magen bekommen. Vielleicht war im Vorratsschrank ja noch etwas Reis. Den könnte er sich fix anbraten mit ein bisschen Ei. Es würde nicht die Welt sein. Billiges Essen eben. Aber immerhin etwas zwischen den Zähnen.

Die Tür zum Wohnzimmer war zu. Semi war wahrscheinlich dort. Wusste der Geier, was er da drin tat. War anscheinend wichtiger als seinen Partner von einem anstrengenden Arbeitstag zu begrüßen. Als wäre er auf die Zuneigung des anderen angewiesen, dachte Shirabu säuerlich, obwohl es ihm heimlich wurmte ... nicht, dass er es jemals zugeben würde.

Schulterzuckend ging er ins Bad, nahm da erst seine Maske ab, reinigte gründlich seine Hände und desinfizierte sie. Er atmete tief durch.
Anschließend wusch er sich sein Gesicht mit kaltem Wasser. Seine Haare wurden bei dem Prozedere nass, aber er kümmerte sich nicht darum. Morgen hatte er frei und würde ein entspannendes Bad nehmen.
Er stützte seine Hände auf dem Waschbeckenrand ab und starrte in den Spiegel. Sein ganzer Körper tat ihm weh. Er hatte heute bestimmt zweimal die Erde umrundet. Die 12 Stunden Schichten schlauchten ihn. Die Notaufnahme war überfüllt gewesen und überall waren schreiende Kinder mit ihren Müttern oder Vätern. Das war auch der Grund, warum er keine richtige Pause hatte machen können. Im Krankenhaus stellte man seine eigenen Bedürfnisse immer ganz schnell hinten an. Es gab schließlich Wichtigeres. Dringenderes.
Er hörte ihre rufenden Stimmen immer noch.

Eine Massage würde ihm jetzt guttun.
Normalerweise begrüßte ihn sein Freund immer, wenn er von der Arbeit kam. Aber es verwunderte ihn auch nicht, dass er heute von der Tradition abwich, denn sie hatten gestern Abend einen ziemlich heftigen Streit gehabt. So schlimm, dass Shirabu ihm vor lauter Wut, den Futon ins Wohnzimmer geschmissen hatte.
Grund des Streits war mal wieder das Geld und Semis einkommensloses Hobby, welches der Trottel jetzt auch noch zu seinem Vollzeitjob gemacht hatte. Vorher hatte es ihm nicht halb so viel ausgemacht. Damals, als sie Welt noch nicht Kopf stand und das Hospital sich noch nicht zu einem Irrenhaus verwandelt hatte. Er hatte wirklich versucht ihn zu unterstützen. Aber nach dem Lockdown Beschluss war sein ohnehin schon kurzer Geduldsfaden zu einer Zündschnur geworden, den Semi unaufhörlich befeuerte.
Wenn er darüber nachdachte, hatte er auch eigentlich gar keine Lust Eita zu sehen.

Nach einer Weile verließ Kenjirou das Badezimmer, schnappte sich aus der Küche ein paar Schokoladenkekse (er hatte keine Lust mehr sich jetzt noch etwas in der verunstalteten Küche etwas zu kochen) und marschierte dann ins Schlafzimmer. Geräuschvoll ließ er die Tür zufallen.
In kürzester Zeit hatte er sich in seinen langen Schlafanzug geworfen und legte sich auf seinen Futon. Frustriert über die ganze Situation zog er die Decke bis hoch zur Nase, rollte seinen Körper auf die Seite und entsperrte sein Handy.
Er könnte im Internet noch ein paar Spinner ausfindig machen, die verrückte Corona Verschwörungstheorien verbreiteten. Der Student hatte seinen Spaß daran, diese Menschen mit knallharten Fakten in Grund und Boden zu stampfen. Nur leider waren sie mit einem sehr niedrigen IQ gesegnet worden und die Diskussionen drehten sich immer im Kreis.

Shirabu hielt eigentlich nicht viel von den sozialen Netzwerken, aber hin und wieder ließ er sich dann doch hinreißen und sah sich stundenlang YouTube Videos an. Natürlich auch die seines Freundes. Auf seinem Kanal lud er regelmäßig Videos hoch, bei denen man ihm zusehen konnte, wie er ein schon existierendes Lied performte. Nichts Eigenes. Nur billige Kopien. Dafür hatte er seinen Job hingeworfen? Für etwas Nachgemachtes? Dabei saß er doch den ganzen Tag nur zu Hause und hatte Zeit ohne Ende sich mal etwas Eigenes auszudenken!
Das Talent dafür hätte er ja eigentlich. Nur reichte das nicht aus, um in dem Business erfolgreich zu sein, sodass man davon leben konnte. Dazu brauchte man eine gehörige Menge Glück!
Und Glück war etwas, auf das man nicht sein ganzes Leben bauen sollte!

Trotzdem versuchte er den Volltrottel zu unterstützen. Sah sich mindestens einmal täglich seine Videos an, damit sie mehr Klicks bekamen.

Shirabu hörte, wie die Tür zu seinem Zimmer ganz zaghaft geöffnet wurde.
Wenn man vom Teufel sprach. „Kenji?", hörte er die zögerliche Stimme Semis.
Doch er dachte nicht daran zu antworten. Weiter im Dunkeln liegend, sah er auf das helle Display und scrollte in Seelenruhe durch YouTube, auf der Suche nach einem unterhaltsamen Video. Hoffentlich würde der Blonde gleich wieder verschwinden.
Aber der Musiker hatte andere Pläne. Ihn in Ruhe zu lassen, war offensichtlich keiner davon. Leise trat er näher an den Jüngeren.
„Also, ich habe Essen gemacht."
„Ich habe keinen Hunger.", antwortete er prompt.
„Auch nicht auf dein Lieblingsessen?"
Shirabu stutzte. Misstrauisch drehte er sich zu seinem Gegenüber. Mit zusammengekniffenen Augen sah er zu dem aschblonden Haarschopf, der im Dunkeln leuchtete.
„Du hast Shirasu gekocht?!"
Jetzt war er doch neugierig. Semi hatte sich noch nie die Mü-
„Iiih nein! Okay ... dein zweites Lieblingsessen."
„Man kann kein ‚zweites Lieblingsessen' haben. Entweder man hat ein Lieblingsessen oder man hat zwei Gerichte, die man gerne isst.", belehrte er ihn.
„Und nein, ich möchte lieber weiter leben, als das zu essen, was du zubereitet hast. Nach der Küche zu urteilen, kann es ja nicht gerade weltbewegend sein." Mit diesen Worten drehte er dem Älteren wieder den Rücken zu.
Eine erdrückende Spannung lag wieder zwischen ihnen.
„Tss, du kannst echt so ein Arsch sein!", nuschelte Semi erbost.
Kenjirou hörte, wie Eita den Raum verließ.
Kurze Zeit später war Geschirrgeklapper in der angrenzenden Wohnstube zu hören. Nach ein paar Sekunden wanderte das Geräusch in Richtung Schlafzimmer. Shirabu setzte sich nun halb auf.
Was zum ... ?
Das Licht ging an.
Von der Helligkeit geblendet blinzelte er in den Raum und sah, wie Semi auf einem Tablett das Essen umständlich vor ihm auf den Boden platzierte.
„Was soll denn der Scheiß?"
„Wenn du nicht zum Essen kommst, kommt das Essen eben zu dir."
„Ich habe doch gesagt, ich habe keinen Hunger."
„Warum stopfst du dann die Schokoladenkekse in dich rein, obwohl du die nicht mal besonders magst?"
Auf diese Frage wollte Kenjirou nicht antworten. Stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust.

Nachdem Semi alles fertig arrangiert hatte, setzte er sich im Schneidersitz seinem Freund gegenüber.
„Hier." Der Musiker reichte dem Studenten eine Schüssel Reis mit angebratenem Lachs, Algen und Sojasoße.
Skeptisch beäugte Shirabu den Inhalt.
„Ich wusste gar nicht, dass DAS zu meinen liebsten Gerichten gehört."
Semi seufzte leise.
„Ich wollte mich damit bei dir entschuldigen. Wegen gestern..."
„Wenn du die Entschuldigung ernst meinst, hätte ich wenigstens Shirasu erwartet."
„Du weißt, dass ich es nicht ab kann, wenn mich das Essen anguckt. Das ist eklig.", entgegnete der Ältere mit einem angewiderten Blick.
„Wow, danke. Ist ja nur mein Lieblingsessen. Ich kann es auch nicht ab, wenn mich JEMAND beim Essen beobachtet." Die Betonung ganz bewusst auf das eine Wort gelegt. Dabei beschwerte er sich wegen nichts. Es war ja nicht so, als würde er es persönlich nehmen, wenn man ein Gericht nicht mochte.
Eita öffnete den Mund, um ihm eine unfreundliche Erwiderung an den Kopf zu knallen, besah sich dann aber doch eines Besseren.
Der Musiker senkte den Blick, atmete kurz durch und fing dann noch einmal von vorne an.
„Ich wollte mich bei dir wegen gestern entschuldigen."
Unbeirrt begann der Jüngere zu essen.
„Der Streit ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen. Und dann musste ich mich heute erst mal ein bisschen abreagieren..."
„Und da wolltest du, dass ich die Testperson deiner schrecklichen Kochkunst werde?", fragte Shirabu provozierend.
Den Kommentar ignorierend, fuhr Semi fort: „Das was ich gestern gesagt habe ... das meinte ich nicht so. Mir ist klar, dass ich aktuell eine Last bin. Das mit der Musik läuft nicht halb so gut, wie ich es mir erhofft hatte. Vor allem jetzt bin ich aufgeschmissen, weil echt gar kein Geld reinkommt. Du hattest Recht. Ich hätte nicht so dumm sein sollen, meinen Job hinzuschmeißen. Ich bereue es sehr. Wirklich. Aber Kenji ... ich liebe die Musik wirklich. Und ich will das unbedingt schaffen! Ich will dir beweisen, dass du stolz auf mich sein kannst."

Shirabu beobachtete seinen Freund, während dieser versuchte, die richtigen Worte zu finden. Er würde ihn definitiv nicht dabei unterbrechen. Der Satz „Du hattest Recht" ging runter wie Öl.
Diese Worte hörte er definitiv zu selten. Vor allem von dem Mann, von dem er es so unbedingt gesagt bekommen wollte. Semi war, wie er selbst, ein absoluter Sturkopf und wollte immer mit dem Kopf durch die Wand.

„Du leistest echt extrem viel für Gesellschaft. Du bist immer nur am Arbeiten. Und wenn du nicht arbeitest, dann lernst du. Du gibst echt alles für dein Ziel. Es war unfair von mir zu sagen, dass nur Loser keine Hobbies haben, denn eigentlich fühle ich mich neben dir wie ein richtiger Versager..."
Oh, das war bisher der beste Teil, dachte Shirabu freudig, ohne äußerlich mit der Wimper zu zucken. Hätte er den letzten Teil doch nur aufgenommen, dann könnte er es immer und immer wieder abspiel- Stopp! Solche fiesen Gedanken wollte er sich doch schon vor langer Zeit abgewöhnt haben! Er liebte Semi, nur manchmal kam immer noch das kleine Monster in ihm hervor.

„Ich ... ich würde dich gerne mehr unterstützen... ich weiß nur nicht wie.", presste Semi unsicher hervor. Niedergeschlagen sah er in die hellbraunen Augen seines medizinversierten Freundes.
Eine Weile war es still.
Der Jüngere wusste selbst, dass auch er unschöne Dinge zu Semi gesagt hatte. Dinge, die ihn mit Sicherheit auch verletzt hatten. Aber im Gegensatz zu seinem Partner fiel es ihm viel schwieriger seine Gefühle und Gedanken in Worte zu fassen, ohne, dass sie böse klangen.

Shirabu stellte seine leere Schüssel neben sich. Er musste so hungrig gewesen sein, dass er wirklich alles bis auf das letzte Reiskorn verputzt hatte. Jedoch würde er Eita in diesem Zustand lieber nicht gestehen, dass es eigentlich echt lecker war, sonst würde er die Küche noch regelmäßig zum Schlachtfeld werden lassen.
Deswegen schlug er mit einem verschmitzten Grinsen vor: „Wenn du mir meine Füße massierst, wäre das schon mal ein Anfang."

„Dein Ernst jetzt?"
Der Medizinstudent steckte die Füße aus der Decke und wackelte mit den Zehen. „Ich hatte heute einen echt anstrengenden Tag. Da ist das doch das mindeste, was du tun kannst!"
„Hm .. okay." Der Musiker grummelte und stand dabei auf.
„Ich würde dir gern vorher noch etwas vorspielen."
Shirabu ertappte sich selbst dabei, wie er die Augen verdrehte.
„Wenn das wieder so ein gecoverter Mist ist, brauchst du deine Gitarre gar nicht erst holen!", rief er ihm noch hinterher.

Eine Minute später setzte sich der Gitarrist wieder im Schneidersitz vor ihn und begann leise zu spielen. Erst zögerlich und dann immer sicherer. Die Melodie kannte der Braunhaarige nicht. Konnte es sein, dass sein Freund tatsächlich ein eigenes Lied komponiert hatte? Diesen Tag würde er sich im Kalender eintragen müssen!

„Das ist für dich, Kenji. Das ist mein erster eigener Song und ich habe Wochen gebraucht, um ihn perfekt zu machen. Heute ist unser 5. Jahrestag und weil ich kein Geld habe, dir etwas zu kaufen, habe ich dir dieses Lied geschrieben."

Verdammt, sie hatten heute Jahrestag?! Wie hatte er den denn vergessen können? Normalerweise war er es, der sich Daten gut merken konnte! Nun hatte er gar kein Geschenk für seinen Partner. Wie sah das denn aus? Doch weiter kam Shirabu mit seinen Gedanken gar nicht, denn da fing Semi auch schon an zu singen.

'Cause I think you're from another world
And I, I couldn't love another boy
'Cause you, you make me feel
Like I'm intoxicated, toxicated

To the sky, flying high, take me to the moon
Day or night, we don't have to say a word
'Cause you make me feel
Like I'm intoxicated, toxicated

Your eyes like a shot of whiskey
Warms me up like a summer night
Can you tell that I need you with me?
Let me drink you down tonight

No, I don't just want any pretty face
Wanna wake up next to yours each day
Baby, won't you be my saving grace tonight, tonight?
With you, we could be the only ones here

~ Refrain ~
...
Feel like I black out, pass out every time that we touch
And if it hurts in the morning then it must be love
I want your heart, baby, straight no chaser
I wanna feel it in my head when I wake up, when I wake up

~ Refrain ~

Kenjirous Herz schlug viel zu schnell in seiner Brust. Er war verzaubert. Der Text war ... „Ist ja ekelhaft romantisch.", presste er hervor, als er sich sicher sein konnte, dass seine Stimme nicht mehr vor lauter Glück zittern würde.

Unsicher sah Semi zu ihm. „Also gefällt er dir?" Der Größere biss verlegen auf seiner Unterlippe herum.

Statt einer Antwort stand Shirabu auf, ging zu seinem Freund und nahm ihm die Gitarre ab. Nun setzte er sich auf den freigewordenen Platz in Eitas Schoß und nahm sein Gesicht in die Hände.
Kenji sah ihm lange in die haselnussbraunen Augen. Er wollte ihm all die Liebe zeigen, die er unfähig war mit Worten zu formulieren. In diesem Bereich war ihm Semi meilenweit voraus und dieser hatte ihn trotzdem gewählt. Ihn, den seelisch Verkrüppelten. Unendliches Glück tobte in seiner Brust.
Er lehnte seine Stirn an die seines furchtbar romantischen Freundes und hauchte ein „Ich liebe dich." an dessen weiche Lippen, ehe er ihn liebevoll und dann immer begieriger küsste.

In QuarantäneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt