Kapitel 2

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"Und wenn er dir zu handgreiflich wird oder dich in irgendeine dunkle Ecke zieht, dann-"
"Ja ich weiß", unterbrach sie Sharon, Arbeitskollegin und zudem ihre beste Freundin seit der Schulzeit. Sharon war die treuherzigste Seele, die sie kannte, und hing an jedem, den sie mehr als einmal gesehen hatte. Dementsprechend verständlich war auch ihre überfürsorgliche Reaktion, als sie ihr von ihrer exklusiven Führung durch die Stadt und dem Fremden erzählte.
"Dann schubse ich ihn nach hinten, ramme ihm mein Knie zwischen die Beine und schreie so laut, dass der Kaiser von China es noch hören kann!"
Sharon legte ihr einen Finger auf die Brust. Sie war kleiner als sie, trotzdem konnte sie einem regelrecht Angst einjagen. "Sag das nicht so herablassend! Weißt du wie viele Mädchen hier in London verschwinden? Vor allem Mädchen wie du und gerade nachts!"
"Mädchen wie ich?" Sie rückte ein Stück von ihrer Freundin ab, um sich ihren Pullover über den Kopf zu ziehen. Es war zwar Sommer, doch zu dieser Uhrzeit war es doch schon ziemlich frisch draußen.
"Hübsch, gut gebaut, braun gebrannt. Und dazu noch diese großen, runden Augen."
Sie lachte. "Ja, die Augen werden's sein!"
"Die Augen sind das verführerischste an einem Menschen!", stimmte Sharon nickend zu. Sie sah aus, als wollte sie noch etwas hinzufügen, doch schnell legte sie ihr ihre Hände auf die Schultern.
"Mir wird schon nichts passieren. Und dieser Typ sah echt nicht so zwielichtig aus. Mach dir keine Sorgen!"
Sharon seufzte noch einmal und zog ihre Freundin in eine Umarmung. "Pass auf dich auf!"

Es wehte ein leichter Wind, als sie aus der Tür ins Freie trat. Sie versenkte die Hände in ihren Hosentaschen und machte sich auf den Weg zum Eingang.
Sie hatte den Hintereingang genommen, denn der Chef konnte es gar nicht leiden, wenn seine Angestellten den Pub durch den Schankraum verließen. Kurz bevor sie um die Ecke bog, war ihre Schwester wieder da.
Ja, wenn du so rumläufst, dann ist es kein Wunder, wenn du mitgenommen wirst. Geht's noch ein bisschen kleiner und unsicherer? Los, du bist eine starke, selbstbewusste Frau. Oder tu wenigstens so. Hände aus den Taschen, Kopf hoch und zeig was du hast, also Bauch rein und Brust raus und schüttle noch mal die Haare auf, bevor du um die Ecke biegst. Und dann lächeln!
Sie hatte gedacht, wenn sie erst mal in London war, weg von allem bekannten, hätte ihre Schwester nicht mehr so viel Einfluss auf sie. Falsch gedacht. Allerdings hatte sie ja auch die prägenden Jahre ihres Lebens mit ihr verbracht.
Mitten auf der Straße beugte die sich vor, schüttelte ihre Haare auf und warf sie mit Schwung nach hinten. Dann nahm sie ihre Hände aus den Taschen, Bauch rein, Brust raus, Kopf hoch und ganz ohne ihr Zutun breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Sie freute sich auf die Nacht. Ein ganz neues Gefühl stieg in ihr hoch, Lust auf Abenteuer. Das hatte sie bisher erst einmal gehabt. Damals, als Sharon sie überredet hatte mit ihr ein Jahr lang die Welt zu bereisen.
Schließlich bog sie um die Ecke und sah ihn an eine Wand gelehnt stehen. Als er sie auch sah, stieß er sich von der Wand ab.
Lächelnd kam er auf sie zu. "Überrascht mich, dass du tatsächlich gekommen bist!"
"Wieso?" Sie lachte, aber kurz fühlte sie einen Stich in ihrer Brust. Stand ihr ihre Unsicherheit etwa so deutlich ins Gesicht geschrieben?
"Naja", setzte der Fremde an und fuhr sich dabei mit seinen Fingern durch die braunen Haare. "Ich habe selten jemanden kennengelernt, der sich so bereitwillig darauf einlässt mit einem komplett fremden Menschen etwas zu unternehmen... Ich meine, ich könnte ja auch irgendein Perverser sein... oder psychisch krank und ich warte nur darauf, dich in die nächste Gasse zu ziehen und dir die Pulsadern aufzuschlitzen."
Das Ziehen in ihrer Brust verschwand mit einem Schlag. Sie lachte laut auf und schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln. "Glaube mir- ähm..."
"Tom."
"Tom. Glaube mir, so leicht kriegt man mich nicht verschleppt. Zumindest nicht, wenn man sein Augenlicht oder die Möglichkeit, Nachkommen zu zeugen, nicht verlieren will."
Er schluckte. "Na, da bin ich ja beruhigt."
Sie wusste nicht was, aber etwas an diesem Tom gefiel ihr. Die Art wie er seinen Mund zu einem leichten Lächeln verzog oder wie er skeptisch eine Augenbraue hob oder den Kopf leicht schief legte. Auf jeden Fall aber erschien er ihr nicht wie ein Psychopath und auch nicht wie jemand, der kleinen Mädchen unter den Rock kuckte.
"Also dann", sagte Tom und hielt ihr seinen Arm hin. "Sollen wir?"
Sie zögerte einen Moment, dann zuckte sie mit den Schultern und hackte sich bei ihm unter.
"Verrätst du mir auch deinen Namen?", fragte er, während er sie hinter sich her die Straße in Richtung Innenstadt davonzog.
"Nenn' mich einfach Lissy."
"Lissy also." Das Lächeln in seiner Stimme war kaum zu überhören. "Dann erzähl mal, Lissy: Was hat dich denn nach London verschlagen?"
“Erzähl du mir erst mal, wo wir hingehen.“ Sie spürte, wie stark sein Arm war. Nach kurzem Überlegen legte sie ihre Hand auf seinen Oberarm – der wie durch Zufall auch noch angespannt war. Sie unterdrückte ein Grinsen.
“Also ich habe Hunger und ich hoffe es geht dir genau so, denn ich kenne einen super Inder ganz hier in der Nähe.“
“Indisch, in London?“ Zweifelnd sah sie zu ihm.
“Ja. In London gibt es das beste indische Essen außerhalb Indiens!“ Er zwinkerte ihr zu.
“Okay, ich verlass mich ganz auf dich!“
“Also, was hat dich nach London verschlagen?“
“Wie hast du denn gemerkt, dass ich nicht aus London komme?“, antwortet sie mit einer Gegenfrage.
“Du sprichst anders. Du hast einen niedlichen Akzent.“
“Ach, dann bist du also eingefleischter Brite?“
“Geboren und aufgewachsen in London, Kingston.“
“Sagt mir nichts“, konnte sie nur schulterzuckend zurückgeben.
“Was?“ Er sah sie geschockt an. “Das ist der schönste Teil der Stadt!“ Er machte eine kurze Pause. “Aber ich hoffe du glaubst nicht, dass du meinen Fragen ausweichen kannst. Ich bekomme mit, dass du mir nicht antwortest. Also, wie bist du in London gelandet?“
“Am besten passt wahrscheinlich die Bezeichnung Zufall. Eine Freundin von mir wollte unbedingt Work and Travel nach der Schule machen und ich bin mit gekommen. Einfach, um ein bisschen was von der Welt zu sehen, bevor der Ernst des Lebens los geht und irgendwie sind wir gleich in London stecken geblieben. Jetzt bezahlen wir unsere Miete mit Mini-Jobs und genießen das Leben hier“, erzählte sie zögernd und sah ihn dann fragend an. „Und wie verdienst du deine Brötchen?“
“Ach, dies das, ich gucke wie ich über die Runden komme.“ Er fuhr sich mit der Hand übers Haar, dann lenkte er sie auf eine Tür zu. “So, da wären wir!“

A Night In London | Tom Holland ffWo Geschichten leben. Entdecke jetzt