Epilog

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Er kannte nicht eine Einzige der in schwarz gekleideten Personen, abgesehen von der kleinen Braunhaarigen, von der er vermutete, dass es ihre Freundin war. Er hatte die beiden an dem Abend durch die große Fensterfront des Irish Pubs hinter der Theke scherzen sehen. Lissy war ihm sofort aufgefallen.
Niemand beachtete ihn, den Fremden in Anzug und Sonnenbrille, in der Hand einen schwarzen Schirm, der sich in gewissem Abstand zur restlichen Trauergemeinde aufhielt. Es regnete leicht, der Himmel war wolkenverhangen. Kein Wetter für eine Sonnenbrille. Doch er wollte nicht, dass jemand seine Augen sah. Seine Augen, rot und verquollen. Den ganzen Weg hier her hatte er krampfhaft versucht, nicht an diesen Abend zu denken, nicht an das, was sie zusammen erlebt hatten. Wie sich ihre Lippen auf seinen angefühlt hatten. Wie er sich, von Minute zu Minute, enger mit ihr verbunden gefühlt hatte.
Wie sie zurückgewichen war. Gestolpert. Er hatte noch geschrien, aber es war zu spät. Wie in Zeitlupe war sie gefallen. Die goldenen Haare, die ihr Gesicht umrahmten, ihre zarten Hände, die Röte auf ihren Wangen, ihre Lippen. Sie hatte gelächelt. Und ihm das Herz aus der Brust gerissen, mit sich in den Abgrund.
Die Zeremonie begann. Er verstand nicht ein Wort von dem, was gesprochen wurde. Sein Schwedisch Vokabular beschränkte sich auf tack, var så god und hotell, mehr hatte er bisher nicht gebraucht.
Ein Paar Leute sagten etwas. Ein Mann, der ziemlich eingesunken wirkte, sah aus, als hätte er ihr Vater sein können und bei dem einem Mädchen musste es sich um ihre Schwester handeln. Sie sahen sich so unglaublich ähnlich. Auch die Braunhaarige ging nach vorn, doch sie schaffte es nicht, brach nach dem ersten Satz in Tränen aus und wurde von zwei Frauen schließlich wieder nach hinten geleitet.
Die Zeremonie war zu Ende und die Trauergemeinde setzte sich in Bewegung. Etwas unsicher folgte er ihnen. Der Pfarrer führte sie zum Rand des Plateaus auf dem sie standen. Der weiße Stein der Steilküste glänzte unter dem Regen und das Meer peitschte in wilden Wellen auf den Strand. Er fröstelte, zog sich seinen Schal etwas fester um den Hals.
In einiger Entfernung stellte er sich an den Rand der Klippe und sah zum Pfarrer hinüber, der, umringt von schwarzen Regenschirmen in die Mitte trat und eine silbern glänzende Urne vor sich hielt. Er öffnete sie, griff hinein und ließ dann, ganz langsam, die Asche aus seinen Fingern gleiten. Wie kleine, schwarze Schmetterlinge, die vom Wind getragen durch die Lüfte glitten, stoben die kleinen Partikel auseinander, vermehrten sich mit den Wassertropfen in der Luft und flogen weiter. Immer weiter. Ihrem Ziel entgegen.
Nun traten auch andere Leute hervor, einer nach dem anderen, und ließen ihre Asche fliegen. Ihr Vater, ihre Schwester, schließlich auch die Freundin.
Ihm stockte das Herz, als sie sich plötzlich zu ihm umdrehte. Er spürte ihren Blick und mit ihm den der gesamten Trauergemeinde auf sich gerichtet und schluckte. Sie winkte ihn zu sich.
Unsicher und etwas wackelig ging er auf sie zu. Erneut war er froh, eine Sonnenbrille zu tragen, die seine, schon wieder feuchten, Augen bedeckte.
Es dauerte gefühlte Ewigkeiten, bis er bei dem Mädchen war. Sie hatte ihn gesehen, als es passiert war. Aufgelöst, panisch hatte er unten gestanden, neben den Sanitätern, hatte unter Tränen der Polizei erklärt, was passiert war.
Jetzt lächelte sie ihn an, griff scheu nach seiner Hand und führte sie zu der silbernen Urne. Er zitterte, als er seine Finger in der kalten Asche vergrub. Seine Lippe zitterte. Unvorstellbar, dass das einmal Lissy gewesen war. Ihr Gesicht, ihre Lippen. Nichts war mehr übrig, außer kalter Asche.
Er schloss seine Hand, hob sie wieder heraus. Einen Moment starrte er auf seine Faust, unsicher, was er nun tun sollte. Er wollte sie nicht loslassen. Er konnte nicht.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Es war die Freundin. Sie lächelte und nickte ihm aufmunternd zu. Auch ihre Augen glänzten.
Noch einmal atmete er tief ein. Die Tränen rannen ihm nun endgültig über das Gesicht, er konnte sie nicht unterdrücken. Ganz langsam hob er die Hand, spürte den Wind an seinen Fingern, als er sie langsam öffnete. Wieder waren es Schmetterlinge, klein und wendig, wunderschön. Sie stoben auseinander, jeder einzelne suchte seinen Weg, fand ihn und war mit ein paar Flügelschlägen verschwunden.
Eine seltsame Wärme breitete sich in seiner Brust aus, die Tränen brannten auf seiner Haut und ein leises Schluchzen brach aus ihm heraus. Nun war es vorbei. Er hatte sie gehen lassen.

Aber eins war ihm klar: Sie würde nie ganz weg sein. Immer würde sie an seiner Seite stehen, ihn anlächeln und zuflüstern, dass er es einfach wagen sollte. Dass er leben sollte.
Und noch etwas. Es war im klar geworden, als er das Flugticket gebucht hatte; als er zitternd bei sich zu Hause auf dem Sofa gesessen und bitterlich geweint hatte; als er sie auf dem Boden hatte liegen sehen, um sie herum eine Blutlache gespenstischen Ausmaßes; als er sich zu ihr gebeugt und ihr seine Lippen aufgelegt hatte: Selbst, wenn sie nur einen Abend hatten, selbst, wenn sie nicht für die Ewigkeit bestimmt waren:

Er hatte noch nie jemanden so sehr geliebt wie Lissy.

A Night In London | Tom Holland ffWo Geschichten leben. Entdecke jetzt