Es war höchste Zeit, ihnen eine kleine Lektion zu erteilen und die Bombe platzen zu lassen. Zumindest die erste. Deshalb steuerte sie direkt auf den Biertisch zu, hinter dem Irene Hamberg saß. Es wunderte sie nicht im geringsten, dass sie diese langweilige Aufgabe übernommen hatte. Schon damals war die Stufenbeste nicht gerade die geselligste gewesen. Offensichtlich hatte auch sie sich nicht großartig verändert. Irene war die fleischgewordene Verkörperung des Klischees der grauen Maus. Ihre braunen Haare hingen schlaff herunter und weder der Schnitt noch ihre Brille schmeichelten ihrem Gesicht. Ihr Kleid war ein wenig zu groß und verschluckte endgültig Irenes kaum vorhandene Rundungen.
Tatsächlich erinnerte sie Cathrine an sich selbst. Schon damals hatte sie das getan, weshalb sie sich ihr schon immer irgendwie verbunden gefühlt hatte. Die zwei Außenseiterinnen. Ein paar Mal hatten sie einige Worte miteinander gewechselt. Zwar nur triviale Höflichkeiten, aber das war mehr gewesen, was Cathrine zu diesem Zeitpunkt von den meisten entgegengebracht bekommen hatte. Sie hatte es ihr immer hoch angerechnet, dass sie ihr zumindest mit Gleichgültigkeit statt der unverhohlenen Abscheu begegnet war, doch selbst das hatte sich geändert.
Ein Schüler hatte das Auto des Direktors demoliert, woraufhin Jannis Cathrines Namen hatte fallen lassen. Scheinbar eine Kleinigkeit. Er hatte es lustig gefunden ihr die Sache in die Schuhe zu schieben, aber für sie hatte das weitreichende Konsequenzen gehabt. Sie hatte den Schaden begleichen müssen und ihre Eltern, die damals schon nicht viel Geld besessen hatten, hatten diese zusätzlichen Kosten beinahe in den Bankrott getrieben. Jede Proteste und Beteuerung ihrer Unschuld hatte nichts gebracht, da sich die gesamte Schule gegen sie verschworen zu haben schien. Plötzlich hatten einige Schüler sie um das Auto herumschleichen sehen und Irene, mit der sie zu dem Zeitpunkt zusammen zu Mittag gegessen hatte, hatte auf Nachfrage des Direktors hin lediglich den Kopf gesenkt und die Lippen aufeinander gepresst. Cathrine war sich wie in einen schlechten Film vorgekommen, hatte sich aber irgendwann eingestehen müssen, dass sie ohnehin keine Chance gehabt hätte. Und jetzt saß dieses feige Mädchen vor ihr und während sie sich in den letzten 15 Jahren in einen schillernden Schmetterling verwandelt hatte, war sie noch immer eine Raupe.
Doch bevor Cathrine sich vor den Tisch stellen konnte, wurde sie zurückgehalten. Eine Hand hatte sich um ihren Oberarm gelegt und ließ ihn sofort wieder los als sie den Besitzer mit ihrem kalten Blick streifte.
Tobias starrte sie einen Moment an, bevor er schluckte. „Bist du es wirklich, Kathrin?"
Als sie ihren Namen hörte, wäre sie beinahe zusammengezuckt. Seit Jahren hatte sie niemand mehr so genannt. Nicht einmal ihre Eltern, da sie wussten, dass sie diesen Namen hasste. Ihm haftete all die schlimmen Erinnerungen und das Gefühl von Wertlosigkeit und Scham an. Kathrin war das schüchterne, untersetzte, unattraktive Mädchen, das Angst vor der Schule und ihren Klassenkameraden gehabt hatte. Sie war eine Außenseiterin, die sich nicht gewehrt hatte, weil sie irgendwann selbst an das geglaubt hatte, was ihre Mitschüler über sie gesagt hatten.
Als sie nach ihrem Auslandsjahr nach Amerika gegangen war, um dort zu studieren, hatte es ihr gefallen wie amerikanischen Studenten ihren Namen auf englisch ausgesprochen hatte. Sie waren es auch gewesen, die ihr gezeigt hatten, dass sie so viel mehr war als ihre Fehler. So war Cathrine entstanden. Es war wie ein Neuanfang gewesen und sie hatte es tatsächlich geschafft, das alles hinter sich zu lassen. Beinahe zumindest.
Schon als sie sich endgültig dazu entschlossen hatte, nach Amerika auszuwandern, hatte sie gewusst, dass sie eines Tages zurückkehren und allen zeigen würde, wie verflucht falsch sie damals gelegen hatte. Heute war dieser Tag. Und Rache wurde bekanntlich am besten kalt serviert.
„Ich bin es. Schön, dich zu sehen, Tobi", meinte sie kühl. Bevor ihre Mitschüler in der siebten Klasse beschlossen hatten, dass sie keine von ihnen war, waren er ihr bester Freund gewesen. Zumindest hatte sie sich das eingebildet. Denn dann hatte er sich von ihr abgewandt. Er hatte sie alleine gelassen und sie war schutzlos den Hyänen ausgeliefert gewesen. Ohne Rückendeckung, ohne jemanden, der sie unterstützt hatte.
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Monte Christo
Short Story„Ich habe keine Ahnung, ob du ein Psychopath, Narzisst oder einfach ein Arschloch bist, aber es wird höchste Zeit, dass dich dein Karma einholt. Und da das Schicksal offensichtlich zu beschäftigt ist, übernehme ich heute diese Ehre." In ihrer Schulz...