Leonora

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Kurz darauf begann das Abendprogramm. Sie persönlich hätte gerne darauf verzichten können. Niemand hier wollte Leonora Ziegler, jetzt Miesbeck, zuhören wie sie von ihrer unvergesslichen Schulzeit schwärmte. Sich einfach ein wenig auszutauschen, zu tratschen und über alte Zeiten zu sprechen war alles, was die meisten hier wollten. Doch davon ließ sich Leonora nicht beeindrucken, wenn es ihr überhaupt klar war. Diese Frau hatte sich schon immer nur für eines interessiert: Sich selbst.

Cathrine hörte ihr überhaupt nicht zu. Mit leerem Blick starrte sie auf die Bühne und hob leicht die Mundwinkel wenn die anderen um sie herum verhalten lachten. In Hollywood hatte sie gelernt, dass es erstaunlich einfach war, nicht zuzuhören und trotzdem interessiert zu wirken. Man musste nur dann nicken oder die Mundwinkel heben, wenn es der andere erwartete. So schaffte sie es durch sämtliche nervtötenden Veranstaltungen, auf der man sie als Hollywood-Größe erwartete. Wenn sie alles, was dort geredet wurde, für bahre Münzen nehmen würde, wäre sie sicher nicht dort, wo sie heute war. In diesem Raubtierkäfig konnte man nur sich selbst vertrauen. Noch etwas, was sie von Eric gelernt hatte. Selbst wenn sie nie naiv gewesen war. Das hatte eben jene Leute in diesem Raum ihr ausgetrieben. Eigentlich sollte sie ihnen dankbar sein, dass sie sie gelehrt hatten, immer das schlechteste in den Menschen zu sehen. Eigentlich.

Dieses Mal war es jedoch weniger Langeweile, die sie abschalten ließ, als der Gedanke daran, was vor ihr lag. Sie war alles schon so oft durchgegangen. Hatte sich vorgestellt, was sie sagen würde, wie sie sich fühlen würde, wie die Gesichter der anderen aussehen würden, wenn sie es tat. Jetzt kamen ihr Zweifel. Sollte sie es wirklich durchziehen? So oft hatte sie mit Eric darüber gesprochen. Nie würde sie seinen Gesichtsausdruck vergessen als sie ihm das erste Mal von ihrem Vorhaben berichtet hatte. Vermutlich hätte er nicht gedacht, dass sie dazu fähig war, doch dann hatten ihre Entschlossenheit und ihr Mut ihn beeindruckt. Sie war sich ziemlich sicher, dass er sie bis zu diesem Zeitpunkt für ein Mauerblümchen gehalten hatte. Jetzt hatte er eine völlig neue Sichtweise auf sie und selbst wenn er das niemals zugeben würde, sie hatte das Gefühl, dass ihm diese Seite an ihr gefiel. Auch er war ein Mensch, der sich nicht alles gefallen ließ, und nach allem, was sie ihm über ihre Schulzeit und darüber, was sie hatte ertragen müssen, erzählt hatte, war er der Meinung, dass es höchste Zeit sei, dass sie damit abschloss. Und das konnte sie nur mit bittersüßer, sengender Rache.

Cathrine riss sich aus ihren Gedanken und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die kleine Bühne. Leonora genoss es, dass alle Augen auf sie gerichtet waren, aber sie war sich sicher, dass sich das ganz schnell ändern würde. Gerade erzählte sie von ihrer letzten Abschlussfahrt, auf der sie sich mit ihrer Clique aus der Herberge in Spanien geschlichen hatte. Geendet hatte es damit, dass einer von ihnen nach einer Alkoholvergiftung hatte nach Hause fliegen müssen. „Noah sitzt inzwischen im Knast", raunte Tobias ihr zu, „Autounfall mit Fahrerflucht." Wenn sie ehrlich war, war sie darüber nicht einmal überrascht. Noah war schon immer gerne über die Strenge geschlagen und Regeln waren für ihn eine Aufforderung gewesen, sie zu brechen.

Doch als sie nicht antwortete, richteten sich Tobias Augen auf sie. „Was ist los, Kath... Cathrine? Immer wenn du so still wirst, stimmt irgendwas nicht." Da war er wieder. Der alte Tobias. Ihr bester Freund seit Kindergartentagen, der ohne Worte wusste, was sie dachte, und der all ihre Angewohnheiten in und auswendig kannte.

Jetzt entlockten ihr seine aufmerksamen Charakterzüge, die sie damals so vermisst hatte, lediglich ein müdes Lächeln. „Sag du es mir, Tobi", meinte sie und begegnete seinem Blick. Sie gab ihm eine letzte Chance. Vier Worte. Mehr wollte sie nicht hören.

Allerdings enttäuschte er sie wieder, indem er die Vergangenheit hinter einem schelmischen Grinsen verbarg. „Ich wusste es. Du bist nur wegen den Häppchen hier", grinste er und wackelte mit den Augenbrauen. Er hatte das Vergangene vergraben und hoffte, dass es dadurch in Vergessenheit geriet.

Monte ChristoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt