Irene

113 22 17
                                    

„So", sagte sie und musste das verschlagene Grinsen unterdrücken, „Zwei hätten wir. Wer ist der nächste?"

Ihr Blick schweifte über die erwartungsvollen Gesichter, bis sie schließlich an einem bestimmten hängenblieb. „Irene. Erinnert ihr euch an sie? Nein? Sie ist die reizende Dame von dem Empfang heute und war früher unsere Stufenbeste. Zugegeben, sie war immer ein wenig unscheinbar, aber wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen, nicht?"

Sie trat an den Rand der Bühne und strich ihr Kleid glatt. „Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass ich mich offiziell vorstelle. Mein Name ist Kathrin Reisig." Tuscheln ging durch die Reihen, aber sie spürte die Unwissenheit. Früher war es genau das, was sie gewollt hatte. Am liebsten wäre sie unsichtbar gewesen. Besser gar nicht gesehen werden als unangenehm aufzufallen.

„Schon gut. Nicht schlimm, wenn ihr immer noch keine Ahnung habt, wer ich bin. Ich helfe euch ein wenig auf die Sprünge. Ich bin die, die damals Direktor Keils Auto demoliert hat. Erinnert ihr euch? Ah, ich sehe, langsam gehen die Lichter auf. Das Mädchen, das dem Direktor - Gott hab ihn selig - sozusagen das neue Cabrio finanziert hat." Verhaltenes Lachen. Nur Irene wand sich unter ihrem Blick und sah immer wieder zur Tür. Bei ihr erwartete Cathrine, dass sie heulend aus der Halle rannte, aber noch beherrschte sie sich.

„Ja, das Auto", fuhr sie seufzend fort, „Lustige Idee, Jannis, ehrlich." Sie zwinkerte ihm zu. „Es mir in die Schuhe zu schieben, meine ich. Dein Wutausbruch dem unbeliebten Mädchen anzuhängen, das war... fast schon brillant. Dumm nur, dass ich zu diesem Zeitpunkt mit Irene Hamberg zu Mittag gegessen habe. Im Grunde hatte ich also ein Alibi. Allerdings hat sich dieses kleine Problem von alleine gelöst, nicht?"

Ihr Blick fand wieder den von Irene. Inzwischen hatte sie den Kopf gesenkt. Sie hatte damals ganz genau gewusst, was sie angerichtet hatte. Nie war es einfacher gewesen, das richtige zu tun. Sie hätte nur sagen müssen, dass sie bei ihr gewesen war. Mehr nicht. Doch statt sich gegen die selbsternannte Elite der Schüler aufzulehnen, hatte sie lieber dem Direktor ins Gesicht gelogen.

„Tja, gegen die halbe Schule hatte ich keine Chance", fuhr Cathrine fort, „Meine Mutter musste einen zweiten Job annehmen, um das Geld aufzutreiben, und mein Vater ging mit seiner Firma beinahe pleite." Schon vorher war die Familie kaum über die Runden gekommen. Untere Grenze der unteren Mittelschicht. Für die meisten mochte die Summe nicht weiter wild gewesen sein, aber für Cathrines Eltern war es eine weitere finanzielle Belastung gewesen, die sie kaum hatten tragen können. „Man könnte sogar sagen, dass diese Sache indirekt für die Scheidung meiner Eltern verantwortlich war. Aber das ist eine andere Geschichte." Sie winkte ab als wäre es keine große Sache. Doch genau das war es. Noch immer brodelte in ihr die Wut, wenn sie daran dachte, dass zwei scheinbar klitzekleine Lügen ihr heiles Familienleben zerstört hatten. Mühsam zügelte die Amerikanerin ihren Zorn. Sie war zu weit gekommen und es hatte sie zu viel Nerven und Geld gekostet, um jetzt den Kopf zu verlieren.

„Aber zurück zu Irene. Ich muss sagen, äußerlich hast du dich nicht verändert. Du bist noch immer die graue Maus von früher. Keinen Mann, wenige Freunde, arbeitest in der Bibliothek, wenn ich richtig informiert bin. Ganz ehrlich? Früher habe ich dich beneidet. Dir schienen die Sticheleien wegen deiner guten Noten nichts ausgemacht zu haben. Auf der anderen Seite waren sie zu dir auch nie so gemein wie sie es zu mir waren. Selbst heute wünsche ich mir manchmal noch deinen Intellekt und dein ruhiges Leben. Hollywood kann anstrengend sein. - Ich weiß, ich weiß. Klingt klischeehaft, aber ich glaube, keiner in diesem Raum könnte mir glaubhaft widersprechen."

Sie konnte sehen, wie Jannis Schüssler zu einem giftigen Kommentar ausholte, aber sie unterbrach ihn forsch: „Ich sagte glaubhaft, Jannis. Aber netter Versuch."

Monte ChristoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt