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》I'll live forever.《

Seit ich Seokjin und Chung-hee das erste Mal zusammen gesehen hatte, begegneten sie mir in den darauf folgenden Wochen immer und immer wieder. Ich musste ihnen dabei zugucken, wie sie Hand in Hand durch die Gänge liefen, vor jedem hemmungslos miteinander rummachten oder nach Schulschluss in dem teuren Wagen des Blauhaarigen verschwanden und sich gemeinsam sonst wohin aufmachten.

Es frustrierte mich. Es frustrierte mich, dass Seokjin mit diesem ekelhaften Typen in einer Beziehung war, von ihm geschlagen und gewürgt wurde und vielleicht noch Schlimmeres ertragen musste, während sich die Welt ganz normal weiterdrehte, als wäre nichts.

Doch dem war nicht so. Da war nicht Nichts. Seokjin litt, er war unglücklich und kaputt - und ich konnte nichts tun. Keiner konnte das, keiner würde etwas tun, und das machte mich so unendlich wütend, dass ich nachts nicht mehr richtig schlafen konnte und auch tagsüber meine Konzentration mehr und mehr in mir unerreichbare Tiefen abtauchte.

So war es auch kein Wunder, dass ich erst nach einigen Sekunden, in denen ich gedankenverloren aus dem Fenster gestarrt hatte, bemerkte, wie der Platz neben mir ganz hinten im Biologie-Raum, der normalerweise nie besetzt war, von einer Person belegt wurde. Und nachdem ich meinen Kopf wandte, erkannte ich auch, wer diese Person eigentlich war.

Als ich in seine dunklen Augen blickte, schienen die Verzweiflung und der Zorn beinahe vergessen. Sofort fing mein Herz zu rasen an, schickte tausende von tanzenden Schmetterlingen durch meinen ganzen Körper und brachte diesen überall zum Kribbeln. Mein Hals wurde trocken vor Aufregung, die Hände schwitzig aufgrund der Nervosität.

Noch nie war ich Seokjin so nah gewesen und wenn ich schon gedacht hatte, dass er aus der Ferne ein wunderschöner Mensch wäre, dann bewies mir der jetzige Moment, dass er vom Nahen sogar noch schöner war. Dass das überhaupt sein könnte, hätte ich niemals für möglich gehalten.

Aber es war die Wahrheit. Seokjin war der Inbegriff von purer Schönheit.

Wie konnten seine Augen nur so warm funkeln, wie konnte sein Lächeln nur so aufrichtig sein, wenn er doch von so vielen unzähligen Wunden und Narben geschmückt sein musste? Dieser Gedanke brachte mich fast um.

"Hey", sprach der Schwarzhaarige dann leise und ich konnte nicht anders, außer ihn mit offenem Mund anzugucken. Es musste dämlich aussehen, ganz bestimmt, doch seine Stimme - sie war so zart, so rein, so unschuldig. Im Unterricht sagte Seokjin nie etwas und auch sonst hatte ich nicht die Möglichkeit, seinen sanften Klängen zu lauschen, weshalb mich Amors Pfeil in diesem Augenblick ohne Vorwarnung direkt in mein eh schon schwaches Herz traf.

Dieser Junge brachte mich um den Verstand, und er wusste es nicht einmal.

"Also", fuhr er vorsichtig fort, nachdem ich nichts gesagt hatte. "Du, ähm, du bist der Neue, oder? Ich meine ... du bist ja mittlerweile bereits seit ein paar Wochen auf der Schule, aber wir hatten bis jetzt nie die Möglichkeit, miteinander zu reden, deshalb: Hallo, ich bin Seokjin. Und du bist Namjoon, richtig?"

Sein Lächeln wurde noch breiter, zeigte seine reinweißen Zähne. Ich schaute auf seine Lippen, die so verdammt perfekt waren, bevor ich mich endlich dazu entsinnte, ebenfalls etwas zu sagen.

"Ja. Ja, ich bin Namjoon", äußerte ich. Seokjin sah mir dabei direkt in die Augen, ehe er mit seinen mein Gesicht abscannte. "Was genau machen wir jetzt eigentlich?", fragte ich dann nach einer Weile. Es stellte unbeschreibliche Dinge mit mir an, zum ersten Mal direkt mit dem Schwarzhaarigen in Kontakt zu treten, doch war ich mir sicher, dass er das nicht von sich aus getan hatte. Immerhin schien er neben Chung-hee keine weiteren Freunde zu haben. Dass das an diesem selbst lag, beantwortete sich von selbst.

"Hier hinten bekommt man wohl nicht so viel mit", kicherte Seokjin amüsiert. Meine Wangen wurden heiß vor Verlegenheit. Sogar sein Lachen war so unfassbar süß.

"Okay", erklärte er dann gelassen, kratzte sich dabei seinen Nacken, wobei ein Stück seines Rollkragenpullovers herunterrutschte. Sogleich entdeckte ich ein paar dunkle Stellen auf seinem Hals. Es mochte sich lediglich um Knutschflecken handeln. Es könnten allerdings genauso gut Würgemale sein. Was auch immer es war, es füllte meinen Bauch mit brodelndem Zorn.

"Mrs. Ji hat uns in Zweiergruppen eingeteilt, in denen wir bis nächste Woche ein Referat zum Thema Wirkungsweise und Folgen von rauscherzeugenden Substanzen auf neurobiologischer Basis vorbereiten sollen. Ich glaube, wir dürfen uns eine Droge aussuchen oder so. Ich frage sie nach der Stunde noch einmal, so genau habe ich auch nicht zugehört." Danach lachte er wieder, was mich unwillkürlich lächeln ließ.

Es verstrich ein Moment, als Seokjin ruhiger wurde und mich still anguckte. Ich erwiderte seinen intensiven Blick ruhig, bekam nicht genug von seiner Makellosigkeit, als er sich jäh räusperte und nervös mit seinen Fingern spielte.

"Ich hoffe, du hast kein Problem damit, mit mir zu arbeiten."

"Natürlich nicht", entgegnete ich sofort. Mir fiel erst jetzt auf, wie wenig ich zu unserer Konversation beigetragen hatte, und das ließ Seokjin vermutlich unwohl fühlen. Aber ich hatte ich nicht anders gekonnt, in seiner Nähe wurde ich einfach sprachlos.

"In Ordnung", lächelte er anschließend zaghaft, da er zu bemerken schien, dass ich das ernst meinte. "Wir sollten noch einen Termin ausmachen, an dem wir uns treffen. Wir bekommen eine Unterrichtsstunde Zeit, aber das wird wahrscheinlich nicht ausreichen. Ist das okay für dich?"

Ich nickte mit einem ehrlichen Lächeln.

"Absolut." Jede Minute, die du nicht bei Chung-hee bist, lässt mich sorgenfreier fühlen. Und wenn du dann auch noch bei mir bist - Jackpot.

"Gut."

Seokjin holte sein Handy aus seiner Hosentasche heraus, entsperrte es zügig. Ich wollte nicht hingucken, weil ich es selbst nicht mochte, wenn mir Leute auf mein Handy starrten, doch für einen kurzen Herzschlag verweilten meine Augen auf seinem Hintergrundbild, das Chung-hee und den Schwarzhaarigen während eines innigen Kusses zeigte.

Mir wurde schlecht.

"Gib mir deine Nummer", meinte Seokjin und schaute zu mir. "Damit ich dir später schreiben kann und wir einen Tag ausmachen können."

Als hätte ich nur darauf gewartet, sagte ich ihm meine Nummer, die er direkt einspeicherte. Nachdem er sein Handy wieder ausgeschaltet und weggesteckt hatte, klingelte es, was Seokjin aufhorchen ließ.

"Oh, die Stunde ist schon um!", murmelte er. Er sah zu mir und lächelte. "Ich werde Mrs. Ji sofort fragen, was genau unsere Aufgabe ist, und dann schreibe ich dir heute Nachmittag. Ich habe bereits den perfekten Ort im Sinn, an dem wir uns treffen können!" Er stand auf und packte eilig seine Sachen zusammen, wobei ich ihm schweigend zuguckte. "Wir sehen uns. Ich freue mich schon!", verabschiedete er sich anschließend noch und begab sich, wie erwähnt, zu Mrs. Ji ans Pult.

Mit einem schweren Stein auf dem Herzen sah ich ihm nach.

"Ich freue mich auch, Seokjin", flüsterte ich dabei.

Noch die ganze Zeit, in der dieser mit Mrs. Ji redete, blieb ich auf meinem Platz sitzen und beobachtete ihn. Es ging mir einfach nicht in den Kopf, wie er so unbeschwert durch die Schule laufen konnte, während er gleichzeitig seine ganze Verletzlichkeit verbergen musste. Tagein, tagaus, und das seit inzwischen über zwei Jahren.

Ich werde dir helfen. Das verspreche ich dir.

Seokjin war so atemberaubend. So atemberaubend, dass ich mich vom ersten Blickkontakt an in ihn verliebt hatte.

Er hat das alles nicht verdient.

𝐅𝐎𝐑𝐄𝐕𝐄𝐑 | NAMJINWo Geschichten leben. Entdecke jetzt