Meine Einreichung bei einzigartich

31 7 0
                                    

Hej!

Ich habe heute einen Text für die Seite einzigartich auf Instagram eingereicht, den ihr hier ebenfalls lesen könnt:

Als ich soeben angefangen habe, das Kontaktformular auszufüllen, war mir etwas mulmig im Bauch: Ist es wirklich das, was ich machen möchte? Möchte ich meine Geschichte mit (scheinbar) der gesamten Welt teilen und mich in die Gefahr begeben, auf etwas reduziert zu werden, das (in meinen Augen) zwar sehr schlimm und wegbereitend für mein Leben war und bis heute immer noch ist, aber nicht stellvertretend für meine ganze Existenz stehen sollte? Wenn du das hier liest, dann weißt du, dass ich den grünen "Senden"-Button geklickt habe und mich dafür entschieden habe. Bevor ich beginne, sollst du wissen, dass mein Name Marcel ist, ich gegenwärtig 22 Jahre alt bin und aus Berlin stamme. Heute wohne ich in Jena und studiere an der Friedrich-Schiller-Universität. Ich möchte, dass du weißt, dass ich gerne schreibe, Bücher sammle, quirlig bin, koche, singe, Klavier und Gitarre spiele. Es gibt vieles, was mich beschreibt und ich müsste in die Unendlichkeit gehen, um alles aufzuzeigen, mit dem ich mich verbunden fühle. Wie du sicherlich schon gemerkt hast, lege ich es darauf an, viel über mich zu erzählen, ohne, dass ich sofort das nenne, worum es hier eigentlich gehen sollte - weil es mir wichtig ist, nicht stellvertretend für meine Erkrankung(en) zu stehen. Also mache ich es kurz: Ich bin Marcel, 22, und bin seit 2014/2015 in durchgängiger Therapie wegen schwerer Depressionen, einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), selbstverletzendem Verhalten (SVV) und Suizidalität. - Das ist alles, was mir bisher diagnostiziert wurde und es fühlt sich immer noch komisch an, obwohl ich mich inzwischen fest dazu entschlossen habe, darüber zu schreiben. Vielleicht war ich geistig doch noch nicht dafür bereit, das alles hier niederzuschreiben und den Leuten, die mich (nicht) kennen, so intime Details zu verraten. Dennoch finde ich es gleichzeitig wichtig, dass damit offen umgegangen werden sollte und habe bisher immer alle Postings mit Hochachtung und Respekt verfolgt - nun wird es wohl meine Zeit sein, darüber zu sprechen: Der "Grund" für psychische Störungen ist in der Regel nie wirklich "festzustellen". Anders als bei körperlichen Erkrankungen/Unfällen kann häufig Zweifelsfall dargelegt werden, was die genaue Ursache für ein abweichendes Bildnis im Gegensatz zum Standard ist: Hast du dir den Arm gebrochen, dann liegt das vermutlich mit deinem Sturz und den darauffolgenden Schmerzen zusammen (etc.). Bei psychischen Störungen ist es nicht derart einfach, zu sagen, wann und wo eine Abweichung stattgefunden hat. Wenn ich also sagen würde: der und das ist Schuld an meiner Störung, würde ich lügen, denn sowas ist nicht festzustellen. Vielleicht waren es die falschen Gene, der Zufall - oder ein Ereignis, das ich bis heute verdränge. Was ich aber erzählen kann, sind die Geschichten, die ich in meinem Leben erlebt habe und von denen ich ausgehe, dass sie als Auslöser meiner Erkrankungen fungieren. Schon im Kindergarten wurde ich dafür ausgegrenzt, anders zu sein. Bis heute weiß ich nicht so wirklich, was *sie* genau meinten, als sie sowas gesagt haben. Fakt ist: *sie* haben selten mit mir gespielt, ich war alleine und habe mich missverstanden gefühlt. Selbstverständlich wurde ich nie auf Geburtstage eingeladen. Während beliebte Kinder von einem Haufen an Freund_Innen Geschenke in der Schule bekamen, hat sich keiner an mich erinnert. Ich hatte kaum Freund_Innen, auf die ich mich gefreut habe und war generell sehr einsam. Die Betreuerinnen hat das, im Nachhinein, nicht so wirklich interessiert. "Jungs müssen tapfer sein" ist eine der Aussagen, die ich bis heute im Kopf habe. Wäre ich ein Mädchen gewesen, hätte ich vielleicht das allen ebenfalls zum selben Zeitpunkt erlebt, aber ich denke, man hätte viel früher damit angefangen, sich mit dem, was man getan hat, auseinanderzusetzen. Ein gepeinigtes Mädchen verkauft sich in dieser Gesellschaft leichter als ein gepeinigter Junge. Ich denke, die Kindergartenzeit war der Zeitpunkt, an dem ich den gesellschaftlichen Anschluss (erstmalig) verlor. Noch vor dem Beginn meiner Schulzeit hat mein Vater seine Arbeit verloren, es war 2003/2004. Um sich mit dem Jobverlust nicht auseinandersetzen zu müssen, hat er begonnen, mich zu züchtigen. Saß ich nicht gerade, tat ich nicht, was er wollte, war ich nicht männlich genug, schlug er mich - häufig ins Gesicht. Eines Tages sperrte er mich in mein Zimmer und ließ mich den ganzen Tag nicht auf Toilette. In der Reflexion über diese Zeit ist es mir besonders schwer gefallen, und das tut es bis heute, zu verstehen, wieso meine Mutter, die ich so unendlich liebe, damals nichts getan hat. Es war nicht schlimm für mich, geschlagen zu werden - viel schlimmer war es, dass ich das Gefühl bekam, es würde niemanden interessieren. Nicht den Täter, nicht meine Mutter, nicht die Großeltern, die im selben Haus wohnten, auch keine anderen Verwandten. Irgendwann habe ich angefangen, meinen Umstand "es nicht wert zu sein", zu akzeptieren. Auch in meiner Grundschulzeit war das Ganze dann nicht wirklich anders: Kinder wendeten sich von mir ab, ich hätte die Marcel-Pest, keiner wollte mit mir auf ein Zimmer, niemand wollte sich mit mir unterhalten, ich war komisch, ich war anders. - Vielleicht war ich es tatsächlich, weil ich Dinge erlebt habe, die den meisten erspart geblieben sind. Aussprachen gab es in der Klasse auch. Das Fazit der Lehrerin war: beide Seiten seien Schuld. Ich war nervig und die anderen reagierten über. Irgendwann hörte mein Vater auf, mich körperlich zu züchtigen. Bis heute tut er es psychisch. Auch auf dem Gymnasium wurde ich ausgegrenzt, wieder war ich der Lächerliche, neben all den Beschimpfungen kam nun der "Vorwurf" (so war es zumindest immer formuliert), schwul zu sein. Ich war der andere, der komische, der sich dadurch immer gezwungen sah, sich selbst zu reflektieren. Heute bin ich dankbar dafür - ich bin gefestigter denn je. Einfach war es aber nie, stets nachdenken zu müssen, was ich bin und was ich sein will. Ich war gerade zwölf gewesen, da wachte ich auf und dachte mir: dass ich so nicht leben will, dass ich mich nicht mehr auf den Tag freue, auf mein Leben, dass ich einfach im Bett liegen bleiben möchte und schlafen will - für immer. Damals habe ich das nicht so realisiert, wie ich es heute tue. Wenn ich heute Kinder höre, die mir so etwas erzählen, dann zerstört es mir mein Herz, weil ich kaum etwas dagegen tun kann. Früher bin ich immer gerne schwimmen gegangen. Ich würde sogar behaupten, ich war gut darin, besser als manch anderer. Durch die vielen Vorwürfe, die mich aber ereilten, die sich auch manchmal auf mein Körpergewicht bezogen, habe ich begonnen, mich für meinen Körper zu schämen. Ich tue es bis heute. Seit dem Schwimmunterricht bin ich nie wieder in eine Schwimmhalle gegangen und habe mich vor Fremden nie wieder ausgezogen. Eine zeitlang habe ich Tabletten genommen, um abzunehmen und habe über der Toilettenschüssel meinen Finger in den Hals gesteckt. Ich fühle mich bis heute stigmatisiert und schlecht dabei, einen nicht durchtrainierten Körper zu zeigen, der verdeutlicht, dass ich "nicht genug" maskulin bin. Ich bin froh darüber, dass es einen weitläufigen und wichtigen Diskurs über "Weiblichkeit" gibt, dass der Sexismus, der Frauen begegnet, angesprochen wird. Bis heute wünsche ich mir, dass im selben Rahmen über "Männlichkeit" gesprochen wird. Ich merke, dass auch der Mann so langsam in den Fokus der Aufarbeitung seines begegneten Sexismus rückt und darüber bin ich froh. Ich hoffe, dass dadurch andere Jungs/Männer nicht mehr vor der Entscheidung stehen müssen, aggressiv oder schwächlich zu sein. Als ich noch darüber gesprochen habe, und das hat ungefähr in der sechsten Klasse aufgehört, bekam ich immer dieselbe Antwort: "Dann wehre dich". Bis heute frage ich mich, weshalb Menschen eher dazu erzogen werden sollen, sich zu wehren, als dazu, sich nicht menschenverachtend zu verhalten. Es war in der achten Klasse gewesen, da begann ich, mich zu schneiden. Ich nahm die Rasierklingen meines Vaters und bis heute zeichnen viele 48 Narben meinen linken Unterarm. Meine Familie hat mich niemals darauf angesprochen. Ich hätte es auch nicht gewollt, dass meine Großeltern oder Freund_Innen etwas dazu sagen, es wäre mir unangenehm gewesen. Da ich sowieso nur langärmlige Hemden oder Pullover in der Öffentlichkeit trage, fällt es auch schwer, sie zu erkennen. Sollte mich jemand darauf ansprechen, wüsste ich noch nicht, was ich sagen sollte. Dennoch bin ich dankbar für meine Narben: sie haben mir schon immer gezeigt, was ich erlebt habe. Jede einzelne erzählt eine Geschichte und irgendwie macht es mich glücklich. Seit der 10./11. Klasse habe ich schließlich damit begonnen, bei einer sehr guten Psychotherapeutin, die ich bis heute sehr schätze, über alles zu sprechen, was mich bewegt - und es hat gut getan. Der Wunsch danach, sterben zu wollen und darüber nachzudenken, wo ich es wann am besten machen könnte, hat abgenommen. Auf meinem Weg dahin haben mir auch verschriebene Pharmazeutika geholfen. Ich fand es immer schwierig, mich selbst zu beschreiben (das ist bis heute so), aber damals empfand ich es fast schon als Erlösung, mir scherzhaft sagen zu können, dass ich ein Tablettenjunkie sei (damit möchte ich keine Abhängigkeit jeglicher Drogen verharmlosen). 2017 begann ich mein Studium an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Ich möchte Lehrer werden und die Fehler, die mir in meiner Schullaufbahn als Schüler begegnet sind, vermeiden. Ich will für meine Schüler_Innen einen Halt bieten, wenn sie denken, dass sie keinen haben. Unterstützt hat mich mein Vorhaben durch das Cybermobbing, dass mich zu Beginn meines Studiums in Jena begleitete. Unter einem Hashtag auf Jodel wurde anonym über mich geschrieben, wie ich aussehe, welche Module ich besuchte, warum ich ein schlechter Mensch bin und was mich in den Augen der Verfasser, die allesamt ebenfalls Studierende waren, als anders darstellte. Es war schwierig für mich, Fuß zu fassen. Aber auch wieder habe ich es überlebt und bin um eine Erfahrung, auf die ich zwar gerne verzichtet hätte, reicher. Nun ist es 2020, ich bin immer noch lebendig und studiere weiterhin mit Freude die Fächer, die ich später unterrichten möchte. Mein Vater wohnt weiterhin mit meiner Mutter zusammen in dem Haus, in welchem ich geboren wurde, einen Partner habe ich bis heute nicht und auf Geburtstage werde ich ebenfalls nur selten eingeladen. Was ich aber gefunden habe, sind Freund_Innen, die mich unterstützen, Freund_Innen, die mich mögen, so wie ich bin. Vielleicht habe ich nicht so viele wie andere, vielleicht bekomme ich bis heute nicht von unbekannten Personen Geschenke, wenn ich Geburtstag habe, aber ich kann mich glücklich schätzen, so zu sein, wie ich bin. Ich habe noch sehr viel vor mir, das ist mir bewusst. Meine Gedanken, Gefühle und Erfahrungen verarbeite ich in Gedichten und Erzählungen, die ich publiziere. Es sind kleine Welten, die ich mir erschaffe und die mich immer wieder umgeben und glücklich werden lassen. Denn sie zeigen mir, was ich erlebt und durchgestanden habe, wovon ich träume und was mich definiert. Darauf bin ich stolz.

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 03, 2020 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Meet MarcelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt