Kapitel 1

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Ich öffne langsam die Augen und blinzle gegen das helle Licht, was direkt in mein Gesicht strömt. Es ist der erste morgen, den ich hier in Köln erlebe. Erst gestern nachmittag sind wir hier angekommen und bis wir fertig waren mit Möbeln schleppen und Kisten auspacken, war es auch schon an der Zeit zum schlafen gehen. Ich drehe mich auf die Seite und blicke direkt auf das Bild von meiner Mutter auf meinem Nachtisch. Tränen kommen mir in die Augen, ich greife danach und drücke den Bilderrahmen fest an meine Brust. Ich fange wie so oft in den letzten beiden Wochen erst leise, dann immer heftiger und lauter an zu schluchzen. Gerade einmal zwei Wochen ist es her, dass sie an ihrer Krebserkrankung gestorben ist. Immer wieder hat sie mir vor ihrem Tod gesagt, dass sie im Himmel auf mich warten und aufpassen wird und ich nicht traurig zu sein brauche, da sie niemals ganz weg sein wird, sondern immer in meinem Herzen weiterleben wird. Aber diese Worte bringen mir in diesem Moment rein gar nichts. Ich fühle mich einsam und alleine und ich habe das Gefühl, mein Herz zerreißt jede Sekunde in 1000 Stücke. Wie es meinem Vater mit der ganzen Situation geht, weiß ich nicht genau. Er ist um ehrlich zu sein keine große Hilfe. Seit wir wenige Tage nach ihrem Tod auf der Beerdigung waren, hat er kein Wort mehr mit mir gesprochen. Immer wieder versuche ich auf ihn zuzugehen und mit ihm zu reden, seine Nähe zu suchen, aber er wendet sich jedes Mal von mir ab. Ich würde nichts lieber tun, als mit jemandem über das, was geschehen ist, zu reden und dabei in den Arm genommen zu werden. Ich wische mir meine Tränen von den Wangen und versuche tief ein und auszuatmen, um mit dem weinen aufzuhören. Das Bild stelle ich zurück an seinen Platz und greife nach meinem Handy. Wie immer habe ich keine einzige Benachrichtigung auf meinem Display - in der Schule war ich bisher immer sehr unbeliebt, da ich mich immer direkt auf den Weg nach Hause gemacht habe, um mich um meine Mutter zu kümmern, anstatt wie die „coolen" Kinder aus meiner Klasse ins Freibad oder ins Kino zu gehen. Zudem hatten wir nicht wirklich viel Geld, da die Krankenkasse nicht alles an Kosten der Krankheit meiner Mutter übernommen hatte und wenn man immer nur mit heruntergekommenen Klamotten, alten Handys usw. in die Schule kommt, hat man es automatisch sehr schwer, auch wenn das nicht gerecht ist. Umso froher bin ich aber irgendwie auch, dass wir von Mannheim hierher nach Köln gezogen sind. Vielleicht werde ich in meiner neuen Heimat besser akzeptiert. Jetzt, wo meine Mutter nicht mehr da ist, habe ich auch keine Ausrede mehr, warum ich nicht mit den anderen weg könnte. Ich lege auch mein Handy wieder auf den Nachttisch und ziehe weinend die Decke bis über meinen Kopf. In zwei Wochen sind die Sommerferien hier vorbei und die Schule geht für mich wieder los. Dann beginnt die achte Klasse für mich und bis dahin habe ich noch Zeit, die Stadt hier zu erkunden und vielleicht auch meinem Vater irgendwie zu helfen. Nach weiteren unzähligen Minuten der Trauer und des Schmerzes schlage ich meine Bettdecke zur Seite und setze mich schniefend auf. Es bringt alles nichts - irgendwie muss das Leben weitergehen, auch wenn es sich im Moment nicht so anfühlt und ich es ehrlich gesagt auch gar nicht will. Ich durchwühle meine Kartons, bis ich den richtigen mit meinen Hygieneartikeln und einem Handtuch gefunden habe, schleiche mich ins Badezimmer, da mein Vater noch zu schlafen scheint und stelle mich unter das leider noch kalte Wasser. Die Handwerker für das warme Wasser und für die Heizung kommen erst in den nächsten Tagen, aber zum Glück ist es so warm tagsüber draußen, dass eine Heizung sowieso nicht notwendig ist. In Rekordzeit wasche ich mich, putze mir meine Zähne, föhne meine Haare und schminke mich etwas, ehe ich zurück in mein Zimmer tapse, wo ich erneut die Kartons durchsuche, um ein paar Klamotten zu finden. Seufzend ziehe ich eine durchlöcherte Jeans heraus und ein viel zu weites Shirt, mir bleibt jedoch nichts anderes übrig, als das was ich habe anzuziehen.

Eine halbe Stunde später verlasse ich mit 5€ und meinem Handy in der Tasche das Haus und laufe die Straße entlang, ohne zu wissen, wo sie mich überhaupt hinführt. Eine halbe Stunde später erreiche ich das Rheinufer, komme zuvor jedoch an einem Bäcker vorbei, wo ich mir eine Brezel hole und suche mir dann einen ruhigen Ort direkt am Wasser. Gedankenverloren schaue ich den vorbeifahrenden Schiffen hinterher und esse nebenbei Stück für Stück mein Essen. Was meine Mutter und ich wohl früher als sie noch gesund war an einem Tag wie diesem in Köln gemacht hätten? Vermutlich wären wir zusammen mit meinem Vater eine riesige Runde spazieren gegangen, hätten uns mittags ein Stück Kuchen in einem Kaffee gegönnt, um Kraft für einen Ausflug im Schwimmbad zu haben und wären abends zurück nach Hause gegangen, um gemeinsam zu grillen. Mit Tränen in den Augen aber lächelnd schiebe ich mir das letzte Stück Brezel in den Mund, ehe ich die Tüte zusammenknülle. Irgendwie mag ich diesen Ort hier jetzt schon - er scheint auch ziemlich beliebt zu sein, denn obwohl es noch relativ früh ist, sind bereits einige Menschen mit mir unterwegs. Ich bleibe noch einige Minuten sitzen, ehe ich wieder aufstehe und meinen Weg zurück laufe. Zu Hause angekommen erwartet mich bereits mein Vater. „Wo warst du?!" bläfft er mich ohne eine Begrüßung an. „Hallo Papa, ich war eine Runde spazieren. Am Rheinufer" erkläre ich ihm ruhig - immerhin ist es das erste mal, dass ich seine Stimme wieder höre. „UND DAS OHNE MEINE ERLAUBNIS?!" schreit er plötzlich, was mich ziemlich schockiert sein lässt. „Papa... ich war schon öfter alleine spazieren... warum schreist du mich so an?" frage ich entsetzt zurück, aber er holt mit seiner Hand aus und verpasst mir eine saftige Ohrfeige. „GEH SOFORT NACH OBEN IN DEIN ZIMMER!" schreit er weiter. Ich starre ihn wenige Sekunden mit Tränen in den Augen und ziemlich überfordert an und stürme dann mit der Hand auf meiner Wange die Treppen nach oben, wo ich die Tür knallend hinter mir zu ziehe.

Wenn aus Freundschaft Liebe wird (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt