Titus
Als wir in die Wohnung zurück kommen, wartet Alex schon nervös auf uns und ich habe sofort ein schlechtes Gefühl. So, wie er da steht, erinnert er mich ein bisschen an meine Großmutter, als ich zum ersten mal mit einem Tattoo nach Hause kam. Er hat den gleichen gequälten Blick drauf und ich will sofort wieder abhauen, als ich eine Bewegung im Wohnzimmer sehe.
Jessi ist hier.
Sie starrt uns so herablassend an, wie es nur eine Zweiundzwanzigjährige kann, die denkt, dass sie jetzt plötzlich erwachsen ist, nur weil jemand ihr ein Kind verpasst hat. Man kann noch nichts erkennen, sie trägt ohnehin eine zu weite Bluse, aber es reicht aus, dass mir klar wird, dass ich bis jetzt unbewusst Schiss hatte, es könnte von jemand anderem sein als von Alex. Von mir zum Beispiel.
Es ist erst ein halbes Jahr her, dass Jessi in unsere Wohnung gestolpert ist, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Ich war gerade endgültig zurück vom Bund, sechs Monate nur Kerle um mich und alle zwei Wochen Benny und Alex und achtundvierzig Stunden dauerpennen, um mich von den Saufgelagen und den ausgedehnten Waldspaziergängen mit Marschgepäck zu erholen.
An dem Abend fühlte ich mich zum ersten mal seit langem nicht mehr wie ein ausgespucktes Kaugummi und wir konnten raus und alles feiern. Kurz gesagt - eine verschwommene Erinnerung und einen Filmriss später wache ich mit dieser Psycholady im Bett wieder auf und frage mich, wie viel ich eigentlich gesoffen habe, um mir das schön zu trinken. Es muss viel gewesen sein, dass ich mich echt so vergessen habe.
Normalerweise wäre es nie so weit gekommen, wenn ich nicht ernsthaft sechs Monate lang keine Frau mehr zu Gesicht bekommen hätte. Ich stehe eigentlich wirklich nicht auf One Night Stands, und wenn Jessi nicht schon beim Aufwachen geklungen hätte, als würde sie schon unsere Hochzeit planen, hätte ich sie vermutlich wiedersehen wollen. Einfach, um es mal auszuprobieren. Wer weiß schon, ob der erste Eindruck nicht täuscht.
Damals hab ich sie mit irgendwelchen faulen Ausreden raus komplimentiert, aber sie stand schnell wieder vor unserer Tür, weil sie es sich irgendwie in den Kopf gesetzt hatte, mit mir eine Beziehung anzufangen. Wäre eigentlich genau das richtige gewesen, wäre sie nicht so verdammt aufdringlich und kontrollsüchtig. Dass sie dann zu Alex übergegangen ist, war anfangs vermutlich aus Rache, aber die zwei passen gut zusammen. Er tut zwar immer so, als wäre er ein Macho, aber Jessi hat ihn unter ihrer Fuchtel, und ich bin sicher, es gefällt ihm.
Ein bisschen hab ich damals ja den Respekt vor ihm verloren, weil es ihm anscheinend gar nichts ausgemacht hat, sie von mir zu übernehmen. Freunde machen sowas untereinander eben einfach nicht, und wenn sie auf das Mädel stehen, dann schon gar nicht, das ist jedenfalls meine Meinung. Aber Alex war eben immer nur unser Mitbewohner, egal wie oft wir was zusammen gemacht haben, und an dem Punkt hab ich gemerkt, dass er das genauso sieht. Und wär's nicht Jessi, die mich jetzt immer noch abwartend ansieht, dann hätte ich ihnen vielleicht sogar gratuliert.
Jessi schnaubt, als wären wir kleine Jungs, die ihr den Teppich dreckig machen, als ich mich aufs Sofa fallen lasse. Ist ja immerhin auch noch meine Wohnung, ich hab für den ganzen Monat die Miete gezahlt. Mein Sofa ist es übrigens auch. Ihre langen, braunen Haare schwingen aggressiv hin und her, während sie Alex zu sich heran winkt. Oh ja, als sie sich an ihn rangehängt hat, war ich noch verdammt zufrieden, dass sie endlich gemerkt hat, dass ich kein Interesse an ihr habe. Ich Idiot. Ich dachte doch tatsächlich, dass sie nach ein paar Tagen wieder verschwindet, sobald sie ihn näher kennen lernt. Aber da haben sich eben zwei gefunden.
"Wie lange dauert das denn noch? Es kann doch nicht so schwer sein, eine Wohnung zu finden!", nörgelt sie jetzt und ich will ihr vorschlagen, es doch selber mal zu versuchen. Ihre perfekt manikürten Finger zucken aggressiv. "Ihr habt gesagt, dass ihr nach zwei Wochen raus seid!" Sie hat das gesagt, und zwar zu Alex, der es weitergeben musste. Sie weiß schon, wie ich reagiere, wenn sie mir mit der Tour kommen würde. Wir hatten da schon unsere Zusammenstöße. Ihre Stimme klingt eigentlich gar nicht so anstrengend, wenn sie mal nicht auf hundertachtzig ist, aber irgendwie scheint sie nie normal mit mir reden zu wollen.
Woran das wohl liegt.
"Morgen sind wir raus", sagte ich, obwohl ich gar nicht will. Allein die Vorstellung, mit Jacky zusammen zu wohnen, kommt mir anstrengend vor, und die Erwähnung ihrer besten Freundin hat die Aussicht nicht besser gemacht. Zwei von der Sorte würden mir vermutlich nach kurzer Zeit den letzten Nerv rauben.
Aber jetzt habe ich es gesagt. Damit Jessi die Klappe hält und Alex aufhört, mich wie ein getretener Hund anzustarren. Als wäre ich Schuld, dass er zu blöd ist zum Verhüten und sich jetzt diese Horror-Braut antun muss.
"Gut", sagt Jessi und ich hätte fast alles wieder zurück genommen, so zufrieden sieht sie aus. Verdammte Konditionierung. Das hat mir schon bei meinem Vater immer nur Ärger gebracht.
Deswegen bin ich ja auch hier. Es ist nicht das andere Ende von Deutschland, war aber damals der nächstmögliche Zug, als ich das erste mal mit sechzehn von Zuhause abgehauen bin. Okay, nicht der nächstmögliche, aber Berlin war einfach zu offensichtlich. Dem Alten hat das gar nicht gefallen, weil ich nämlich nach zwei Tagen pleite war und mich selbst als vermisst gemeldet hab, als ich dann nicht mehr wusste, wie ich zurück kommen soll. Dumme Idee, sich von den Bullen im Zug heim eskortieren zu lassen. Sie haben damals die ganze Zeit herzlich gelacht. Vor allem, als sie meinen Eltern die Rechnung präsentiert haben.Es hat mir zwölf Monate schuften im Familienbetrieb eingebracht, um die Schulden abzuarbeiten, und einen Eintrag in mein Jugendstrafregister, weil ich weggelaufen bin und so viel Stress verursacht habe. Den einzigen Eintrag wohlgemerkt, weil ich schließlich nicht total dämlich bin, auch wenn manche Leute mich dafür halten. Anwesende eingeschlossen. Wenn ich wenigstens sagen könnte, dass es das wert war, aber eigentlich wurde es nur noch schlimmer zuhause. Den Schulabschluss hab ich damals nur gemacht, weil Muttern mich auf Knien angefleht hat, sonst wäre ich wohl noch an meinem achtzehnten Geburtstag ausgezogen. Aber ihre Argumente waren einfach zu überzeugend.
Ich hab ihre Stimme noch immer im Ohr. Für die Kunden spricht sie immer feinstes Hochdeutsch, aber immer wenn mein Bruder oder ich was angestellt hatten, kommt ihr Dialekt durch und sie flucht schlimmer als jeder Hafenarbeiter. Ihre Version von "auf Knien anflehen" übrigens. Mir so lange den Kopf waschen, bis mir klar wird, dass sie sich Sorgen macht, und ich einlenke.
"Gut, dann solltet ihr jetzt mal packen", säuselt mich Jessi aus meinen Gedanken. Wenn sie das tut, ist sie glatt noch furchteinflössender, aber vielleicht steht Alex ja auf Dominas. Sie ist ja eigentlich Zahnarzthelferin, und da muss sie vermutlich öfter Leute wieder auf Kurs bringen. Ich würde jedenfalls sofort vor ihr flüchten.
"Dann mach dich vom Acker", gebe ich genauso freundlich zurück. "Du stehst mir im Weg." Leider fällt mir keine passende Beleidigung ein, der Tag war lang genug. Erst die Frühschicht, dann Jacky und ihr Dauergequassel und jetzt der Anstarrwettbewerb mit Medusa persönlich. Wäre Alex nicht immer anständig zu mir gewesen, würde ich jetzt einfach die Schlösser austauschen, sobald sie fort sind. Nur so zum Spaß.
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Ich hab genauso Angst wie du
RomanceDie Schule ist fertig, das Leben fängt richtig an. Kira hat eigentlich schon einen festen Plan, was sie mal machen will: Schriftstellerin werden. Aber Pläne haben es eben so an sich, dass sie nicht immer so laufen, wie man es sich vorgenommen hat. D...