2 - Arme Schweine

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Kira

"Sie sind zu spät, Frau Baumann!"

Ich zucke zusammen. Die Aufzugtür hat sich noch nicht mal ganz geöffnet, aber Theresa Klein erkennt mich wie immer. Dabei kann sie mich noch nicht mal sehen von ihrem Platz an dem großen, polierten Schreibtisch. Sie verfolgt mich mit ihrem missbilligenden Blick, als ich betont demütig an ihr vorbei laufe, und ihre rot lackierten Fingernägel tippen unablässig mit leisem Klicken auf der Tastatur ihres Mac. Manchmal frage ich mich, was sie den ganzen Tag eigentlich macht, um so viel tippen zu müssen, aber ich werde einen Teufel tun und sie darauf ansprechen.

"Entschuldigung, Frau Klein", flöte ich mit gezwungenem Lächeln und versuche, nicht zu rennen. Eine verdammte Minute nur! Aber die alte Zicke bekommt einfach alles mit.

Nicht, dass sie wirklich alt ist. Theresa kann höchstens Anfang dreißig sein und sitzt dort den ganzen Tag mit professionellem Lächeln, um sich den Kunden zu widmen, oder Mitarbeiter zu terrorisieren, die gerade die blöde Bahn verpasst haben. Vermutlich hätte ich es auch so gemacht, wenn man mich da so abgestellt hätte.

Während ich durch den Gang zu meinem Arbeitsplatz laufe, überlege ich, ob ich sie überhaupt schon mal anderswo gesehen habe, seit ich hier arbeite. Immerhin sind es schon drei Monate, seit ich sie dazu gebracht habe, mir wirklich diese Praktikumsstelle zu geben, die extra für Studenten ausgeschrieben war. Theresa scheint sich niemals auch nur einen Millimeter dort weg zu bewegen, und hat trotzdem immer eine dampfende Tasse Kaffee vor sich und den neusten Klatsch parat, den sie mit den anderen fest angestellten Zicken austauscht. Vermutlich ist sie jetzt in dieser Sekunde dabei, meinen Chef anzurufen, um ihm alles haarklein zu erzählen.

"Sie sind zu spät, Frau Baumann!"

Ergeben seufzend lasse ich meine Tasche neben meinen Schreibtisch fallen und schließe kurz die Augen, bevor ich mich zu Stefan Schmitt umdrehe. Er wäre der Inbegriff eines Nordlichts, wenn wir uns hier nicht in Sachsen befinden würden. Mit seiner hellen Haut, die innerhalb von Sekunden Sonnenbrand bekommt, den wasserblauen Augen und seinem struppigen blonden Haar könnte man ihn einfach in ein Boot stecken und tadaa - niemand könnte auch nur daran zweifeln. Er überragt mich mit seinen bedrohlichen eins neunzig, während er den Kopf schüttelt und auf mich herab sieht.

"Entschuldigung, Herr Schmitt." Zum zweiten mal heute. Wenn das so weiter geht, kann ich mir auch einfach ein Schild basteln. "Entschuldigung, hier Name einfügen." Wäre vielleicht nicht das schlechteste an diesem Tag, der ungefähr genau so begonnen hat, weil ich gestern vergessen habe, meinen Wecker für die erste Vorlesung zu stellen.

"Mir ist..." die Bahn weggefahren, will ich sagen, aber Schmitt wedelt nur mit seinen Armen, als wollte er mich verscheuchen.

"Jaja, jetzt kommen sie schon, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit." Er marschiert vorwärts, als würden es ums Überleben gehen und mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm hinterher zu rennen. Das macht er immer und wenn ich nicht längst wüsste, dass er mich nicht mag, würde es mir spätestens jetzt klar werden.

Manchmal bin ich fast so weit, das hier hinzuschmeißen. Nach drei Monaten ist mir mein anfänglicher Enthusiasmus langsam verloren gegangen. Die Stelle war damals frei und naiv wie ich war habe ich gedacht, es wäre die beste Möglichkeit, einen Schritt weiter in Richtung meines Traumjobs zu machen. Praktikantin im Verlagswesen. Die perfekte Stelle, um hautnah Leuten mit meinen Manuskripten auf die Nerven zu gehen, bis jemand aus lauter Verzweiflung einfach zusagt, sie zu lesen. Das Gehalt ist mies, die Arbeitszeiten sind genauso mies und allgemein bin ich nicht mehr als eine Sekretärin, die ab und zu mal Kaffee holen darf. Aber ich bin nun mal selbst Schuld.

Ich wollte Schriftstellerin werden, seit mir jemand einen Stift in die Hand gedrückt und mir beigebracht hat, das große A zu schreiben. Na ja, vielleicht ist das etwas übertrieben, aber ich habe schon mit acht jedes Stück Papier bekritzelt, das ich finden konnte, bis meine Eltern sich erbarmt haben, mir einen Computerkurs zu verpassen und mir meinen ersten PC zu schenken. Und jetzt bin ich hier. Praktikantin in einem Verlag und hoffe, dass irgend jemand Mitleid mit mir hat. Oder dass ich mich selbst überwinden kann, überhaupt mal danach zu fragen.

"Das hier muss bis heute Abend fertig sein", erklärt Schmitt und knallt mir einen Stapel Akten vor die Brust. "Und wenn ich heute Abend sage, meine ich siebzehn Uhr dreißig, und mit siebzehn Uhr dreißig meine ich, dass es dann in der Post sein muss, habe ich mich klar ausgedrückt?!"

Ich nickt hastig und versucht, den rutschenden Stapel davon abzuhalten, seinen Inhalt auf dem Boden zu verteilen. "Sicher, Herr Schmitt. Bis heute Abend, Herr Schmitt." Du kannst mich mal, Schmitt. Er nickt zufrieden oder zumindest mit dem Gesichtsausdruck, den ich bei ihm für Zufriedenheit halte. Mir ist schon lange klar, dass er am einfachsten zu ertragen ist, wenn man sich unterwürfig verhält, so wie es sich für eine Praktikantin gehört. Dann hat man jedenfalls seine Ruhe, bis ihm irgendwann einfällt, dass man vielleicht doch zu langsam ist. Oder nicht genug Arbeit hat.

Ich vermeide es, ihm hinter seinem Rücken die Zunge herauszustrecken. Mit fast zwanzig tut man das einfach nicht mehr, auch wenn mir gerade wirklich danach ist. Der Stapel in meinen Armen rutscht ein bisschen weiter und ich beiße mir auf die Lippen, während ihn ihn zu meinem Schreibtisch zurück trage. Absagen schreiben, das sehe ich schon auf den ersten Blick und versuche nicht darüber nachzudenken, dass ich selber mal eine der Unglücklichen sein könnte, die so einen Brief erhalten.


Sehr geehrte/r [Hier Name einfügen],

leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Manuskript nicht unsere Anforderungen erfüllt / nicht in unser Konzept passt. Wir sehen keine Möglichkeit, es in unser Programm aufzunehmen, da wir uns derzeit auf unsere jetzigen Autoren konzentrieren wollen bla bla bla

Mit freundlichen Grüßen


Wie oft ich diese Zeilen schon gelesen habe, während ich endlos lange Namen und Adressen einfüge. Ich kann den Brief inzwischen auswendig und irgendwie hat er seinen Schrecken verloren. Na ja, möglicherweise auch nicht, ich habe ja noch keinen erhalten. Und will auch nicht. Andererseits müsste ich dazu wohl erstmal was einreichen.

Manchmal hält mich allein der Gedanke daran davon ab, überhaupt weiter an meinen Manuskripten zu schreiben, aber meistens eigentlich nicht. Meistens verdränge ich es. Konfrontationstherapie nennt Jacky das und rät mir immer, mich so richtig da rein zu steigern, wenn ich diese Briefe schreibe. Damit es beim ersten mal dann nicht mehr so weh tut. Bei diesem blöden Witz haben wir damals ziemlich gelacht, während wir uns im Rosis ein paar Drinks genehmigt haben und darüber phantasierten, wie ich als erfolgreiche Autorin groß raus kommen und Jacky meine persönliche Assistentin wird. Sie will mir dann endlich mal eine anständige Garderobe verpassen, wobei unsere Definitionen von anständig ziemlich weit auseinander gehen.

Nur leider vergeht die Euphorie immer genauso schnell wieder wie der Rausch.

Sehr geehrter Herr Zeilich, tippe ich energisch und versuche, nicht über das arme Schwein nachzudenken, dass in den nächsten Tagen ein bisschen weniger glücklich sein wird.

Ich hab genauso Angst wie duWo Geschichten leben. Entdecke jetzt