Ein Traum wird wahr

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Als Windjunges aufwachte, stiegen ihr sofort fremde Gerüche nach Kräutern entgegen. Kurz erschrak sie, weil sie nicht wusste, wo sie sich befand, dann fiel ihr alles wieder ein.
Minzblatt, der Traum... all das trat nun wieder in ihr Bewusstsein und verursachte der kleinen Kätzin Kopfschmerzen. Warum passierte das? Und warum ausgerechnet ihr?
Tief atmete sie durch und schloss nochmal die Augen. Es war nur ein einfacher Albtraum sagte sie sich. Nichts, dem man unnötig an Bedeutung beimessen müsste. Dieser Gedanke tröstete sie ein wenig.
Schlaftrunken tappte Windjunges zu dem kleinen Teich in der Mitte des Baus und trank ein paar Schlucke von dem klaren Wasser. Das tat gut, wo sie doch den ganzen Tag noch nichts getrunken hatte. Es erfrischte ihre müden Glieder.
Als sie fertig war, blickte sie sich nach Minzblatt und ihrer Mutter um. Doch die Heilerin war nirgends zu sehen und auch Silberstreif war wie vom Erdboden verschluckt. Windjunges fühlte sich unwohl. Sonst ließ die silbrige Königin ihre Jungen doch keine Sekunde aus den Augen? Nun, vermutlich sah sie gerade nach Vogeljunges. Und Minzblatt... ihr fiel kein Grund ein, warum die sie allein lassen sollte, außer es war etwas passiert. Dieser Gedanke war allerdings alles andere als ein Grund zur Beruhigung!
Windjunges spitzte die Ohren. Sie fühlten sich noch ein wenig taub und benebelt an, so als würden sie gerade erst aufwachen. So nahm sie auch erst jetzt das schockierte und entsetzte Gemurmel vor dem Bau wahr, das nach und nach zu einem richtigen Tumult anschwoll.
Windjunges Magen verkrampfte sich. Vorsichtig blickte sie hinaus auf die Lichtung, doch außer einem großen Knäul aus Fellen und Schwänzen konnte sie nicht viel erkennen.
Langsam trat sie aus dem Heilerbau und kam vorsichtig näher. Ihre Beunruhigung wuchs mit jedem Schritt.
Die Katzen hatten sich in der Mitte des Lagers um eine kleine Gruppe Krieger versammelt. Wer es war, konnte Windjunges bei all den Pelzen nicht erkennen, und um näher zukommen, drängelte sie sich etwas unsanft durch die Menge, tauchte unter Tatzen und Bäuchen hindurch und versuchte, einen besseren Blick auf das Geschehen zu bekommen.
Ihre Gedanken rasten und füllten ihren Kopf mit einem aufgeregten Stimmengewirr. Was ist passiert? Warum sind alle so aufgeregt? Wo ist Silberstreif? Ich sollte lieber im Heilerbau warten... Was ist da vorne los? Die kleine Kätzin schüttelte den Kopf, um es loszuwerden. So konnte sie ja keinen klaren Gedanken fassen! Zu ihrem eigenen Gedankenwirrwar kamen ja auch noch die empörten und verängstigten Kommentare ihrer Clangefährten.
Windjunges Kopf fühlte sich an, als wäre er übervoll, fast, als müsse er bersten.
„Minzblatt! Du musst ihm helfen!"
Der panische Schrei ihrer Mutter jedoch, übertönte alles andere. Windjunges hatte sie noch nie solche Laute von sich geben hören.
Sie lief schneller, stolperte über eine Pfote, brach aus dem Kreis der Katzen aus und fiel der Länge nach auf die Nase. Das tat weh.
Schnell rappelte sie sich auf und sah sich peinlich berührt um, doch keiner ihrer Clangefährten schien ihren kleinen Unfall bemerkt zu haben. Sie alle starrten betroffen und schockiert auf die Katzen, die in der Mitte des Kreises standen. Und nun erkannte Windjunges auch, warum ihre Mutter so geschrien hatte. Es schnürte ihr die Kehle zu. Nein!
Vor Silberstreifs Pfoten lag der blutverklebte Körper ihres Vaters.
Auch die anderen Katzen der Jagdpatrouille sahen arg mitgenommen aus, aber Entenfeder war kaum noch bei Bewusstsein. Sein rechtes Hinterbein stand in einem merkwürdigen Winkel ab und er stöhnte leise.
Vogeljunges stand entsetzt daneben. Windjunges Schwester sah so aus, als ob sie jeden Moment in Ohnmacht fallen würde und auch sie selbst fühlte sich plötzlich merkwürdig schwach auf den Pfoten, als sie das viele Blut sah, das aus zahlreichen Wunden an Entenfeders Körper rann und in den Waldboden sickerte. Ihr wurde schlecht.
Und in diesem Moment, entdeckte Windjunges Lilienstern. Sie hatte ihre Anführerin noch nie so wütend erlebt. Die große Schildpattkätzin fuhr zornig die Krallen aus und ein und schien um Selbstbeherrschung zu ringen.
„Wie ist das passiert?" fauchte sie Eichenkralle an, der mit seinen breiten Schultern Rosenfell stützte die ausdruckslos ins Leere starrte, einen Schleier der Schmerzen über ihren grünen Augen. In ihrer Flanke klaffte eine große Wunde, deren Anblick Windjunges den Magen umstülpte und drohte, ihr weniges Frühstück, das sie am Morgen herunter gebracht hatte, wieder ans Tageslicht zu befördern.
Möwenflug, der neben ihr stand, humpelte zu Minzblatt hinüber und sah besorgt auf Entenfeder hinunter. Auch er war ziemlich lädiert und Windjunges merkte, wie wenig er seine rechte Vorderpfote belastete.
„Es war ein Hinterhalt." begann Eichenkralle. „Sie waren in der Überzahl. Wir hatten keine Chance." Er sah zu Boden und Rosenfell leckte ihm zittrig ein eingerissenes Ohr.
„Wer war das?" knurrte Lilienstern mit zusammengebissenen Zähnen, obwohl ihr Blick verriet, dass sie schon eine ziemlich genaue Ahnung von dem Angreifer ihrer Patrouille hatte. Und sie sah aus, als ob sie ihn am liebsten zerfleischt hätte.
„SturmClan," war das Einzige, das Rosenfell herausbrachte. Dann musste sie sich setzen.
Eichenkralle warf ihr einen besorgten Blick zu und sah dann hilfesuchend zu Minzblatt hinüber, die neben Lilienstern stand.
„Lilienstern," die Heilerin sah zu ihrer Anführerin auf. Das erste Mal sah Windjunges Angst in ihren Augen. „Entenfeder und Rosenfell müssen sofort in meinen Bau."
Lilienstern nickte verbissen. „Goldauge, hilf ihr!" befahl sie grimmig.
Der graue Kater kam sofort angelaufen und schob eine Schulter unter Rosenfell. Er warf seiner Anführerin einen besorgten Blick zu, doch sie sah nur zu Boden, eindeutig mit sich und ihrer Selbstbeherrschung beschäftigt.
Minzblatt half unterdessen Entenfeder, der ohnmächtig wurde sobald er auf allen vieren stand, und halb stützend, halb tragend, bugsierten sie und Goldauge Entenfeder und Rosenfell in den Heilerbau.
Silberstreif sah ihrem Gefährten hinterher und setzte sich dann zittrig auf den Boden, wo sich Vogeljunges an sie schmiegte.
Windjunges fühlte sich schrecklich. Ich wusste es! Ich wusste, dass so etwas passiert!
Unsicher auf den Pfoten tappte auch sie hinüber zu ihrer Mutter und kuschelte sich zwischen sie und ihre Schwester. Doch es tat nicht so gut wie sonst. Silberstreif zitterte. Und Entenfeder fehlte.
„Minzblatt wird sie doch retten?" fragte Vogeljunges flehend. „Oder?"
„Natürlich mein Schatz," antwortete Silberstreif. Doch ihre Stimme konnte ihre Angst nicht verbergen.
Windjunges tauschte einen Blick mit ihrer Schwester. In Vogeljunges Gesicht fand sie ihr eigenes Entsetzen widergespiegelt. Beide kuschelten sich noch enger an ihre Mutter, diesmal waren sie es, die ihr Halt gaben.
„Die SturmClan Katzen kamen wie aus dem Nichts," knurrte Möwenflug bitter und zog Windjunges Blick wieder auf sich. „Sie waren in der Überzahl. Es kam zum Kampf, natürlich, was suchen die schon bei uns!" Er setzte sich neben Eichenkralle, der ebenso bitter dreinblickte, fast, als hätte er Mäusegalle verschluckt.
„Sie wollten kein Territorium. Sie wollten unsere Beute!" ergänzte er. „Einfach nur, damit wir sie nicht haben, nicht, weil sie sie brauchen! Da hätten sie uns auch gleich Territorium klauen können!"
„Ja, das sieht Lindenstern ähnlich," spottete Lilienstern, doch ihre Stimme klang eindeutig verbittert. „Lässt die anderen die Drecksarbeit für sich erledigen. Er war nicht an dem Kampf beteiligt, stimmt's?" knurrte sie, abgrundtiefer Hass auf den SturmClan Anführer lag in ihrer Stimme.
„Stimmt," sagte Eichenkralle und warf seiner Anführerin einen zustimmenden Blick zu. „Nur Flussspritzer, Wolkenpelz, Bussardschwinge, Dunkelpelz und zwei kleine Schüler, die wir nicht kannten, richtig?" Er warf Möwenflug einen fragenden Blick zu und der nickte.
„Ja. Leider waren sie immer noch in der Überzahl und haben gekämpft, als ob ihr Leben davon abhinge," sagte er.
Windjunges Augen weiteten sich entsetzt. Das war genau wie in ihrem Traum! Bussardschwinge musste die Tigerkätzin gewesen sein, die mit Rosenfell gekämpft hatte! Von Wolkenpelz hatte sie zwar nichts gesehen, aber er musste Möwenflugs und Eichenkralles Gegner gewesen sein! Und die beiden Schüler, von denen der Krieger sprach, waren... „Lichtpfote und Apfelpfote." Heiliger SternenClan!
„Wer?" fragte Vogeljunges. Sie warf immer wieder unruhige Blicke in Richtung Heilerbau und ihre Pfoten scharrten über ein paar herabgefallene Blätter der Weide.
„Die Schüler aus meinem Traum," antwortete Windjunges tonlos.
Und langsam schien Vogeljunges zu verstehen. Ungläubig sah sie ihre Schwester an.
„Du meinst, du hattest eine Vorahnung?" flüsterte sie ehrfürchtig. „So etwas, wie eine Vision?"
Windjunges nickte und schien unter dem Blick der kleinen Kätzin zu schrumpfen. Warum sieht sie mich so an, als ob ich eine SternenClan Katze wäre? Sie wollte von Vogeljunges nicht so angesehen werden. Sie wollte angesehen werden, wie eine normale Katze! Wie eine Schwester! Nicht wie jemand, vor dem man Ehrfurcht haben musste! Nicht wie jemand, der etwas Besonderes war! Jemand, der anders war.
Liebend gerne wandte Windjunges sich wieder Eichenkralle und Möwenflug zu, die weiter erzählten, wie sie von den SturmClan Katzen überfallen worden waren, nur, um dem Blick ihrer Schwester auszuweichen.
„Flussspritzer hat Entenfeder angefallen," ergänzte Möwenflug gerade ihren Bericht. „Die beiden sahen so aus, als ob sie auf Leben und Tod gekämpft hätten!"
Eichenkralle nickte. „Bussardschwinge hat sich Rosenfell vorgeknöpft. Es sah aus, als ob sie gewinnen würde, aber dann ist Dunkelpelz aufgetaucht und Rosenfell musste gegen beide kämpfen."
Möwenflug blickte schuldbewusst drein. „Zuvor hatte ich mit ihm gekämpft und dachte, er wäre erledigt," miaute er kleinlaut. „Ich habe mir dann Wolkenpelz vorgeknöpft. Als ich gemerkt habe, was vor sich ging, kam ich ihr auch sofort zu Hilfe. Aber es war leider zu spät. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten."
Eichenkralle warf ihm einen tröstenden Blick zu. „Du hast dein Bestes gegeben," sagte er. „Keine Katze kann dir Vorwürfe machen."
Die LichtClan Katzen murmelten zustimmend und Bachblüte, Möwenflugs Gefährtin, schmiegte sich beruhigend schnurrend an ihn.
Der Krieger straffte sich wieder und blickte nun etwas fester in die Runde. „Währenddessen hat Eichenkralle die Schüler in die Flucht geschlagen und kam dann um Entenfeder zu helfen," erzählte er und sah den hellbraunen Tigerkater anerkennend an. „Er ist wirklich der beste Kämpfer des LichtClans!"
Eichenkralle lächelte bescheiden und doch schwoll ihm die Brust vor Stolz.
„Danke," sagte er, als die LichtClan Katzen ihr zustimmendes Gejubel beendet hatten. „Aber wir haben trotzdem verloren. Wir konnten uns losreißen und fliehen, aber die Beute mussten wir zurücklassen."
„Nun..." sagte Lilienstern und ihre Augen funkelten entschlossen. „Vielleicht haben wir diese Schlacht verloren! Aber es ist noch nicht aller Tage Abend!"
Die LichtClan Krieger jaulten zustimmend.
„Aber wir wissen nicht, wie Flussspritzer Entenfeder das angetan hat," warf Eichenkralle ein. „Sie hätten uns wahrscheinlich getötet, wenn wir nicht geflohen wären." Er sagte das so nüchtern, dass Windjunges sich fragte, ob er seinen Tod sogar schon erwartet hatte. Es machte ihr Angst.
Was ist mit dem Gesetz der Krieger? fragte sie sich. Man darf doch gar nicht töten! Haben die SturmClan Katzen das etwa vergessen? Haben sie ihre Ehre verloren?
Da spürte sie plötzlich den Blick ihrer Mutter auf sich ruhen. Und als sie zu Silberstreif aufblickte und ihr in die Augen sah, wusste sie auch, was der Königin im Kopf herumging. Nämlich dasselbe wie ihr.
„Du hast genau das geträumt!" miaute sie, wohl lauter als beabsichtigt. „Du hattest eine Vision von der Zukunft!"
Windjunges spürte die versammelten Blicke ihrer Clangefährten auf sich ruhen und schrumpfte unter ihnen zusammen. Lilienstern, Möwenflug, Eichenkralle, Silberstreif, Vogeljunges, Sonnenpelz und all die anderen sahen sie an, als wäre sie vom SternenClan persönlich! Auch Baumpfote.
Windjunges presste sich fest an ihre Mutter. Sie wusste, dass all diese Katzen ein Recht darauf hatten, von dem Traum zu erfahren. Es war zu wichtig, um es geheim zu halten. Und doch machte es ihr Angst.
Sie wollte nicht all ihre Ungewissheit mit ihrem Clan teilen! Und überhaupt, sie war doch nur ein Junges! Nur Heiler und Anführer hatten Visionen!
Wieder wirbelten ihre Gedanken, und sie wusste, dass sie gerade einen sehr verängstigten Anblick bot. Nicht den Anblick einer Kriegerin.
Was, wenn ich so etwas jetzt öfter träume? Was erwartet mein Clan von mir? Windjunges war verzweifelt. Zum wiederholten Mal an diesem Tag wünschte sie sich nichts sehnlicher, als in ihrem Nest zu liegen und die Nase im Moos zu vergraben. Einfach zu schlafen und die Welt um sich herum auszublenden.
Dabei will ich doch nur eine Kriegerin sein! Dabei will ich doch einfach nur frei sein! Und kaum hörbar flüsterte sie: „Ja, das habe ich. Ich hatte einen Traum."

Windherz' Sternenpfoten || ÜberarbeitetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt