Brief 5

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Heute haben wir einen kleinen gefalteten Zettel in unserem Briefkasten gefunden. Ein Name stand nicht darauf, doch die Botschaft könnte an jeden hier gerichtet sein:

Liebes...ich?

Einen Liebesbrief an mich selbst schreiben...die wohl sonderbarste Aufgabe, die ich je bekommen habe.

Wie macht man das überhaupt?

Mir fällt auf die Schnelle wirklich nichts ein und ich kann mir ja schlecht einfach was ausdenken und mich selbst belügen.

Viele sagen, dass sei eine Frage der Perspektive. Also dieses »Ist das Glas halb leer oder halb voll«-Dings. Da klappt das mit meinem Realismus nämlich nicht mehr und ich tendiere dann doch eher zum Pessimismus - mein Glas ist immer halb leer.

Vielleicht muss man das einfach mal ändern und aus dem halb leeren Glas ein halb volles machen - jemand anderes wird das nämlich ganz sicher nicht übernehmen, so viel habe ich

längst gelernt.

Ich weiß nur eines:

Ich bin kleiner und muss gefühlt immer zu allen aufschauen.

Mein Busen ist zu klein - nur mit sehr vielen Tricks sieht er auch nur annähernd so aus, wie ich es gerne hätte.

Langweilig - das beschreibt meine glatten braunen Haare mit am Besten.

Mein Körper ist nahezu kurvenlos, da hilft nichts mehr. Er ist und bleibt ein viel zu gerader Strich in der Landschaft.

Ich habe Pickel - immer.

Meine Füße sind komisch - genau wie meine Zähne.

Der Sarkasmus, den ich oft und gerne verwende, schreckt viele ab.

Meine Hüftknochen stechen komisch heraus, mein Bauch ist zu dick (und ganz Sixpacklos).

Ich bin behaart, zu sehr für das klassische Frauenbild. Da hilft es nur, den ganzen Sommer lange Sachen zu tragen, um Kommentare zu vermeiden.

Ich bin ein halb leeres Glas.

Noch.

Vielleicht aber muss ich tatsächlich nur umdenken, auch wenn ich das erst lernen muss. Dann übe ich es halt, jetzt und hier:

Ich mag, dass ich kleiner bin - so habe ich vermutlich weniger Probleme mit Rückenschmerzen und steche nicht immer sofort aus der Menge heraus.

Mein kleine Brust ist toll, so kann ich sie je nach Lust und Laune auch mal verbergen - und auch Rückenschmerzen sind hier wieder seltener.

Meine Haare sind schön glatt und dadurch pflegeleichter.

Zum Glück habe ich keine Akne, sondern nur einige wenige Pickel und Mitesser.

Eine schlankere Figur ist auch schön.

Sarkasmus hilft mir, alles leichter zu nehmen - wäre ich sonst so glücklich?

Ich mag meine Augen - und meine Augenbrauen. Irgendwie.

Ich mag es, dass ich halbwegs sportlich bin, auch wenn ich dafür nicht viel Begeisterung aufbringen kann.

Meine unverdient guten Noten sind praktisch, ich komme halbwegs klar - ganz ohne durchgehend Stress schieben zu müssen. Das ist nur manchmal nötig...

Ich bin ein halb volles Glas.

Immer.

Dafür liebe ich mich, auch wenn es mir manchmal schwer fällt.

Denn ich habe jedes Recht ich zu sein - egal was andere sagen.

Und das ist gut so - jeder ist ein halb volles Glas.

Harmonisch. Attraktiv. Liebeswert. Begabt.

Vielfältig. Ohnegleichen. Lebenslustig. Lässig. Ehrgeizig. Schlau.

Gebildet. Lebendig. Adrett. Schön.

In Liebe,

dein »halb volles Ich«

Liebesbriefe an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt