Brief 10

89 17 2
                                    

Heute Morgen saß bei uns eine Eule auf dem Fensterbrett des Kaffeehauses. Nachdem wir kurz gehofft hatten, doch noch nach Hogwarts zu dürfen nach all den Jahren, konnten wir feststellen, dass das liebe Tier uns stattdessen einen viel besseren Brief von der selbstbewussten Apfela gebracht hat.

 Liebes ich,

du warst und wirst nie perfekt sein. Es hat lange gebraucht bis du das akzeptiert hast. Zu lange hast du versucht einer idealen Version von dir hinterherzulaufen. Du wolltest alles sein schön, intelligent, diszipliniert, mutig, geliebt und das hat nicht funktioniert. Bei dem Versuch es zu sein hast du dich selbst zerfleischt in dem ewigen Streben es allen recht zu machen. Du warst abhängig von Bestätigung, der Liebe eines Typen, der dich nie zu schätzen wusste, der Anerkennung von Jungs, die keine Ahnung von wahrer Schönheit hatten, wolltest Freunden gefallen, die überhaupt keine Freunde waren.

Du weißt, was du durchgemacht hast. Damals als du auf Socken im Regen durch das gesamte Dorf gelaufen bist, um ihnen zu entkommen. Damals als sie die Jungen zu dir in die Toilette gelassen haben und du weinend am Lagerfeuer saßt. Das waren einmal deine Freunde und du weißt, was du dann getan hast: Du bist gegangen und hast dir neue Freunde gesucht, die dich so zu schätzen wissen, wie du bist. Du hast wieder gelernt zu lachen. Du hast gelernt wieder Geheimnisse zu teilen, ohne Angst zu haben, dass bald jeder davon weiß. Du hast wieder gelernt zu vertrauen. Und das liebe ich an dir.

Und du weißt, was sie auf den Schulgängen über dich geredet haben. Auch wenn sie dachten, dass du es nicht mitbekommen würdest. Du weißt, wie sie über deine Akne gelästert haben. Das all das deine Schuld wäre, weil du dich nicht genug pflegen würdest während du nachts vor dem Spiegel standest und dir achtzigprozentigen Alkohol in dein brennendes Gesicht geschmiert hast. Du kennst den Schmerz, als deine Haut sich in Fetzen von deinem Gesicht gelöst hat und dennoch nicht aufhören wolltest die Cremes zu benutzen. Du weißt, wie du weinend im Sprechzimmer der Hautärztin saßt, geplagt von einer 10-jährigen Krankengeschichte, die wohl nie enden würde. Du hast die Reißleine gezogen, als das einzige Mittel ein Medikament war, dass so schlimm war, dass du jeden Monat einen Bluttest hättest machen sollen. Du hast ein Jahr lang in keinen Spiegel geschaut. Du hast die Blicke ertragen, bis es vorbei war. Du hast gelernt mit den Narben zu leben. Du trägst sie mit Stolz jeden Tag. Du bist ein Vorbild geworden. Und dafür liebe ich dich.

Du warst dabei, als dein Vater zum dritten Mal seinen Job verloren hat und sie ihn des Diebstahls bezichtigt haben. Du hast zu ihm gestanden. Du hast seine Last mitgetragen, obwohl du noch so klein warst. Du hast gelitten, aber du bist durchgekommen, ohne ein schlechtes Wort über ihn zu verlieren. Du hast deinen Stolz behalten, als sie ihn dir nehmen wollten. Und dafür liebe ich dich.

Du wurdest zurückgewiesen von dem Jungen, der dir damals die Welt bedeutet hat. Du hast viel geweint seinetwegen, nächtelang allein oder mit einer Freundin am Telefon, in der Bibliothek. Du hast dich selbst gehasst, weil er dich nicht gewollt hat, hast dich abhängig gemacht von seiner Liebe. Du hast zugelassen, dass er bestimmt, ob und wann ihr euch seht. Und doch hast du irgendwann erkannt, dass du mehr wert bist als das. Du hast ihn zurückgestoßen, um dich selbst zu lieben. Du bist gegangen, bis du über ihn hinweg warst. Du hast es geschafft, dass ihr wie gleichberechtigte Partner miteinander umgehen könnt. Du hast gelernt, dass du mehr wert bist, als jeder Typ. Du hast wieder gelernt dich selbst zu lieben. Und dafür liebe ich dich.

Du hast die Hand deines Opas gehalten, als er gestorben ist. Du hast seinen Puls gemessen, um festzuhalten, dass er Tod ist. Du hast zwei Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet. Du hast gesehen, wie schlimm das Leben sein kann. Du hast Krebs gesehen zweimal. Du bist weinend auf der Toilette zusammengebrochen deswegen und dennoch hast du zwei Tage bei deiner Oma geschlafen, um sie zu trösten. Du hast auf ihren Beerdigungen gesprochen, um es für andere leichter zu machen. Du warst stark für andere. Du hast ihr Andenken geehrt, indem du Menschen zu Stammzellenspendern gemacht hast. Du hast die Trauer überwunden. Und dafür liebe ich dich.

Du hast den Studiengang gewählt, den du wolltest und nicht den, den sie dir vorgeschrieben haben. Du bist deinen eigenen Weg gegangen, auch wenn es schwerer war. Du tust es immer noch. Und dafür liebe ich dich.

Am Anfang habe ich gesagt, dass du niemals perfekt sein wirst und das ist die Wahrheit. Niemand ist perfekt und du ganz sicher auch nicht. Aber mittlerweile weißt du, was du sein kannst. Du weißt welche Fehler du hast und akzeptierst sie anstatt zu versuchen sie auszuradieren. Du suchst nicht mehr die Schuld für alles bei dir. Du hast gelernt ein Vorbild zu sein in deiner Unperfektheit. Du strebst immer noch jeden Tag nach einer idealen Version von dir, aber nicht mehr zu dem Preis, deine aktuelle Version zu zerstören. Es gab Schwierigkeiten in deinem Leben, aber du hast sie überwunden und jede Niederlage, jede Schwäche, die du mal besser mal schlechter überwunden hast, ist ein Grund dich zu lieben. Es werden noch weitere dazukommen und ich hoffe, nein ich weiß, dass du sie irgendwie überwinden wirst. Du bist so wie du bist und das ist gut.

Deine Anna.

Liebesbriefe an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt