Kapitel 8

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Man sieht sich ja immer zweimal oder nicht? 

Diesen Satz wiederhole ich in Gedanken wieder und wieder. Er ist mein persönliches Mantra geworden,  seit ich Henry das letzte (und erste) Mal gesehen habe und hilft mir dabei, diesen Tag zu überstehen. Im Moment ist es allerdings 'nur' eine Doppelstunde Mathe, durch die ich mich quälen muss und das zu allem Überfluss auch noch ohne Ellie,  die leider in einem anderen Mathekurs ist als ich.

Missmutig krame ich nach meinem Kuli und fange an, den Hefteintrag abzuschreiben, schließlich habe ich sonst keine andere Beschäftigung. Mit meinen Mitschülern hatte ich noch nie wirklich viel zu tun und geredet habe ich mit ihnen höchstens nur über Hausaufgaben oder Schule allgemein. Und ehrlich gesagt habe ich gerade alles andere als Lust auf ein bisschen Smalltalk über solche Themen, also mache ich einfach das, was ich sonst auch immer mache: Nichts sagen und am besten so unauffällig wie möglich zu bleiben.  Gut, vielleicht versuche ich ab und zu mal, unserem Lehrer zuzuhören,  der die ganze Zeit ununterbrochen von irgendwelchen Funktionen und deren Ableitungen redet. Aber trotz aller Bemühungen verstehe ich nicht einmal die Hälfte davon, also schweifen meine Gedanken irgendwann wieder ab.

Und zwar zu Henry und seinem 'Wir sehen uns'. Hat er das nur so gesagt oder hat er das auch wirklich so gemeint?  Es gibt eigentlich nur diese zwei Möglichkeiten und der Unterschied zwischen ihnen könnte nicht größer sein. Vielleicht wollte er ja einfach nur nett sein und hat mich schon längst vergessen, weil er zu jedem Mädchen so ist? Andererseits... er hat sich so darum bemüht, ein Gespräch mit mir anzufangen, dass ich fast schon gedacht hätte,  er wäre aufdringlich.  Was sich ja dann doch als Irrtum herausgestellt hat.  Heißt das jetzt,  dass er mich wiedersehen will? Oder eher nicht? 

Ich analysiere jede Minute von unserer Begegnung,  kann aber immer noch keine Antwort auf meine Frage finden. Wieso sind Jungs eigentlich so kompliziert?  Bei diesem Gedanken muss ich irgendwie grinsen.  Scheint so, als hätten sich die normalen Teenagerprobleme nicht in Luft aufgelöst.  Im Gegenteil,  sie sind eigentlich nur schlimmer geworden.  Bis jetzt war Ellie immer diejenige, die sich bei mir über das Thema Jungs beschwert hat, ich dagegen hatte einfach noch nicht den richtigen gefunden. 

Aber bei Henry ist das irgendwie anders. Ich will ihn wiedersehen, damit ich ihn kennenlernen kann, bevor es zu spät ist.  Das Problem ist nämlich,  dass ich ziemlich schüchtern bin und es vermutlich nicht schaffen werde, den nächsten Schritt zu machen. Das heißt,  ich muss nicht nur darauf warten,  ihm wieder zu begegnen,  sondern auch darauf,  dass er mich dann anspricht. Leider habe ich weder auf den ersten,  noch auf den zweiten Teil irgendeinen Einfluss und diese Ungewissheit macht mich fast wahnsinnig. 

"Melanie?"

Ich schrecke hoch. Mein Mathelehrer steht in voller Größe vor mir und starrt mir eindringlich in die Augen. 

"Kannst du mir vielleicht das Ergebnis sagen?" Mein Blick wandert zur Tafel. Darauf stehen lauter Zahlen und ich bin zu sehr abgeschweift um auch nur halbwegs zu verstehen, was sie bedeuten.  Daher schüttele ich nur stumm meinen Kopf und versuche, nicht meinen Lehrer zu beachten,  der seine Schultern hängen lässt und hörbar seufzt. Ich denke, das schlechte Gewissen,  das mich überkommt,  kann man mir ansehen. Das hindert ihn aber nicht daran,  etwas von wegen "das müsste doch jetzt eigentlich jeder verstanden haben", vor sich hin zu murmeln. Ich ignoriere diese Bemerkung.  In zwei Wochen bin ich eh hier weg und davon abgesehen war Mathe noch nie meine Stärke. 

Trotzdem versuche ich die restlichen zehn Minuten der Stunde wenigstens so zu tun, als ob ich mich konzentrieren würde, um wenigstens ein bisschen Bemühungen zu zeigen.

Als es dann endlich,  endlich klingelt, verlasse ich so schnell wie möglich das Klassenzimmer und mache mich auf den Weg ins Stockwerk über mir, wo Ellie jetzt Unterricht hat. Das haben wir schon immer so gemacht, weil sie immer ewig braucht,  um ihre Sachen einzupacken. 

Doch anders als sonst,  kommt sie mir bereits mit einem aufgelösten Gesichtsausdruck auf der Treppe entgegen. 

"Ellie, was ist los?", frage ich und sehe sie besorgt an, denn normalerweise gerät sie nicht so schnell aus der Fassung. 

"Keine Sorge, es ist alles okay", keucht sie und legt mir beide Hände auf die Schultern.  Dass wir hier mitten auf der Treppe stehen und damit den Weg für ziemlich viele Leute versperren scheint sie nicht zu stören. 

"Ellie", sage ich langsam und deutlich,  "Rede mal Klartext."

Auf dem Gesicht meiner Freundin breitet sich ein Lächeln aus. "Eigentlich ist alles sogar mehr als okay."

"Jetzt sag schon!"

Sie zieht ihr Handy aus der Hosentasche und öffnet ihre Facebook Startseite. Dann klickt sie auf den Neuigkeiten-Button, scrollt ein paar Mal und hält mir das Handy direkt unter die Nase. 

Schnell überfliege ich die Seite und schüttele fassungslos den Kopf.

"Das gibt's doch nicht!", flüstere ich und und spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt.

"Das gibt's einfach nicht!"

Behutsam nimmt Ellie mir ihr Handy aus der Hand. "Doch, Melanie ", sagt sie leise,  "das gibt's." 

Ich schüttele immer noch den Kopf. Es ist gerade mal 24 Stunden her, seit wir die Anzeige auf Facebook aufgegeben haben und jetzt schon hat jemand geantwortet,  der anscheinend etwas über meinen Vater weiß.  Das ist doch eigentlich gar nicht möglich! So viel Glück kann ich nie im Leben haben.

Stürmisch falle ich meiner besten Freundin um den Hals und umarme sie fest. Vielleicht ein bisschen zu fest, denn sie taumelt augenblicklich ein paar Schritte nach hinten und stößt gegen einen Jungen, der gerade in die andere Richtung laufen will. Das alles geht so unglaublich schnell, dass keiner die Chance hat, zu verhindern, dass ich gegen das Treppengeländer stoße und rückwärts ein paar Stufen nach unten stolpere. Es wären aber einige mehr gewesen, wenn nicht plötzlich zwei Hände dagewesen wären,  die mich genau zur richtigen Zeit auffangen.

Ich drehe mich um,  um mich bei demjenigen zu bedanken und erstarre. Ob vor Freude oder vor Schreck weiß ich nicht. 

Denn vor mir steht Henry.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 20, 2015 ⏰

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150 Seiten *on hold*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt