Kapitel 7

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Das sonst so fröhliche Geplapper im Schulbus verstummt augenblicklich, als Matti die Fahrertür öffnet und von seinem Fahrersitz aufsteht. Allerdings nur bis zu dem Moment, bis er ausgestiegen ist, dann setzen die Gespräche wieder ein, aber diesmal viel hektischer und lauter als davor. Ich hebe die Augenbrauen und lehne mich ans Fenster. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie unser Busfahrer unruhig auf und ab geht, während er telefoniert und soweit ich das beurteilen kann nicht gerade leise.

"Das sieht aber nicht gut aus", höre ich eine Stimme irgendwo hinter meiner Schulter. Henry. "Hm", mache ich nur, ohne den Blick von der Fensterscheibe abzuwenden. "Was meinst du, wie lange wir hier noch stehen bleiben?", fragt er und ich zucke mit den Schultern. Versteht er denn nicht, dass ich gar nicht mit ihm reden will? "Keine Ahnung, sowas habe ich noch nie erlebt", versuche ich so unfreundlich wie möglich zu sagen. Henry lacht leise. "Ich auch nicht. Das gehört aber bestimmt zu den Dingen, die man im Leben einmal gemacht haben soll, findest du nicht?"

Ich zucke wieder mit den Schultern und spüre gleichzeitig einen Stich an der Stelle, wo sich mein Herz befindet. Mein Leben? Viel davon bleibt mir ja nicht mehr übrig. Ich bekomme einen Kloß im Hals und schlucke, doch meine Kehle fühlt sich an wie zugeschnürt.

Scheiße. Ich darf jetzt nicht schon wieder weinen. Nicht hier. Nicht vor diesen vielen Leuten. Nicht vor Henry.

In den letzten Tagen habe ich doch schon genug geheult. Reicht das denn nicht?

Schnell wische ich mit dem Ärmel unter meinen Augen entlang, um die Tränen aufzuhalten, die bereits meine Augen füllen. Geräuschvoll ziehe ich meine Nase hoch drehe mich von Henry weg. Er soll mich nicht so sehen. Das Blöde ist nur, dass ihm keine Wahl bleibt, weil er neben mir sitzt und der verdammte Bus im Schnee steckt. Wahrscheinlich denkt er noch, dass ich deswegen weine. Davon schießen mir nur noch mehr Tränen in die Augen, denn irgendwie ist es mir doch nicht so ganz gleichgültig, was er von mir denkt.

Ich atme tief durch und wende mich tapfer wieder Henry zu. "Sorry", murmele ich leise und ziehe ein Taschentuch aus meiner Tasche.

Henry schweigt. Eigentlich finde ich das gut, weil ich ja meine Ruhe wollte, aber ich hätte erwartet, dass er jetzt versucht mich aufzubauen. Aber nein, er sagt ausnahmsweise mal nichts. Was ihn irgendwie sympathisch macht, denn um ehrlich zu sein, kann man in der Situation auch schlecht das Richtige sagen. Manchmal reichen Worte eben einfach nicht aus.

Stattdessen... legt er einen Arm um mich. Dabei kennt er mich nicht mal! Trotzdem schafft er es, mich zu beruhigen, denn durch seine Berührung versiegen meine Tränen plötzlich.

"Du musst mir nicht sagen, was los ist und du musst dich erst recht nicht entschuldigen", sagt er leise. "Aber wenn du irgendwie reden willst, höre ich dir zu."

"Okay", flüstere ich und lege meinen Kopf auf seine Schulter, der auf einmal so furchtbar schwer geworden ist.

Im gleichen Moment kommt Matti in den Bus gestürmt, völlig außer Atem. "Also, Leute: Der Abschleppdienst is' in zehn Minuten da! Wir sin' bald hier raus!"

Die zehn Minuten vergehen schneller als ich angenommen hatte. Und auch die Zeit, in der der Abschleppwagen unseren Bus über die Straße zieht, verfliegt irgendwie.

Ehe ich mich versehe, stehen wir schon auf dem Buswendeplatz meiner Schule und als ich meinem Kopf von Henrys Schulter nehme, wird mir auf einmal wahnsinnig kalt. Matti hat die Türen geöffnet und nun dringt von überall her eiskalte Luft in jeden Winkel des Busses. Sofort fange ich an, mit den Zähnen zu klappern, wie so oft in letzter Zeit.

Henry schultert seinen Rucksack und steht auf.

"Kommst du klar?" Ganz kurz sieht er mir in die Augen, aber dieser kleine Moment kommt mir vor wie eine Ewigkeit.

"Ja", antworte ich.

"Okay", gibt er zurück und lächelt ein bisschen. "Wir sehen uns."

Dann geht er, sehr langsam und leise. Mit aller Kraft hoffe ich, dass er sich noch einmal umdreht und mich nach meiner Nummer fragt oder so, aber mit jedem Schritt, den er macht wird diese Hoffnung kleiner und kleiner. Als er ausgestiegen ist, stelle ich fest, dass ich die Einzige bin, die noch im Bus sitzt, alle anderen - selbst Matti - sind schon draußen. Auf einmal breitet sich in mir eine unendlich große Leere aus, die immer noch da ist, als ich mit zitternden Knien die Treppe zum Haupteingang meiner Schule hochsteige.

Aber so schlimm der Tag heute auch werden wird, gibt es drei Lichtblicke an diesem Tag.

Der erste ist Ellie, die hundertprozentig schaffen wird, meine Laune zu verbessern. Einfach, weil sie meine beste Freundin ist.

Der zweite sind Henrys Worte.

Und der dritte ist die Hoffnung, dass Henry und ich uns vielleicht irgendwann mal wiedersehen werden.

Man sieht sich ja immer zweimal im Leben, oder nicht?

150 Seiten *on hold*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt