Prolog

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Es ist vorbei.

Die 150 Tage, die Zeit, die mir noch geblieben ist, ist abgelaufen. Heute ist der Tag gekommen, der alles verändern wird. Entweder ist es der Tag, an dem endlich allem ein Ende bereitet wird und ich ganz normal weiterleben kann. Oder aber es ist mein letzter. Beide Möglichkeiten stehen noch offen und ich weiß immer noch nicht, welche eintreten wird.

Eines weiß ich aber: Selbst wenn es jetzt für mich nicht mehr weitergehen sollte, in den letzten 150 Tagen habe ich so intensiv gelebt, wie manch anderer in 50 Jahren nicht.

Ich kuschle mich noch tiefer in die Decke, eine weiße aus dem Krankenhaus. Vielleicht ist es das letzte Mal, dass ich dieses Gefühl der vollkommenen Geborgenheit spüren darf, vielleicht ist es das letzte Mal, dass ich Henrys Geruch auf dem Kopfkissen einatmen darf, vielleicht sind das hier die letzten Stunden, Minuten und Sekunden meines Lebens. Vielleicht aber auch nicht.

Vielleicht.

Ein komisches Wort.

Seufzend greife ich neben mich und taste auf dem kleinen Nachttisch nach meinem Notizbuch. Es ist aus dunkelrotem Leder und hat eine schwarze Schnalle, in der ein Kugelschreiber befestigt ist. Mit zitternden Händen öffne ich das Buch und beginne zu lesen. Nicht irgendeine Geschichte, sondern meine eigene. Für mich ist sie die bewegenste, die ich kenne. Bei manchen Stellen muss ich so laut lachen, dass ich davon schon fast Schluckauf bekomme. Bei anderen Stellen schießen mir Tränen in Augen, bahnen sich ihren Weg nach draußen und laufen unaufhaltsam über meine rauen Wangen. Ich kann gar nicht mehr aufhören zu weinen. Irgendwann schaffe ich es doch, den Schleier vor meinen Augen wegzublinzeln und ich ziehe den Kuli aus seiner Halterung. Fast lächle ich ein bisschen, als ich die letzte Seite aufschlage und den Stift langsam, aber bedächtig über das Papier gleiten lasse.

Henry, schreibe ich und auf einmal sind die Tränen wieder da,

Egal was passiert, denk daran, ich liebe dich.

Melanie.

Meine Unterschrift kann man kaum noch lesen, ein großer Klecks verschmiert meine Schrift.

Plötzlich merke ich, wie mein Atem immer flacher und schneller wird. Für den Bruchteil einer Sekunde tanzen kleine Sterne vor meinen Augenlidern und ich taste geistesgegenwärtig nach dem Knopf, der die Krankenschwester alarmiert. Es dauert nicht mal eine halbe Minute, da ist sie schon bei mir, neben meinem Bett und streicht mir beinahe schon zärtlich die Haare aus Stirn. "Es wird alles gut, Melanie", flüstert sie. Meint sie das wirklich so, oder sagt sie das nur, um mich zu beruhigen? Gerade will ich meinen Mund öffnen, um diese Frage laut zu stellen, da rammt die Schwester plötzlich eine silberne Spritze in meinen Unterarm. Es tut weh, keine Frage, aber ich habe keine Kraft mehr, um aufzuschreien. Mir wird schwindelig und ich muss jetzt meine ganze Energie dafür verwenden, die Augen offen zu halten.

Doch ich habe keine Chance.

Die Sternchen verwandeln sich in schwarze Punkte und ich gerate immer mehr in den Sog der Dunkelheit.

"MELANIE!", dringt Henrys Stimme von der Tür her wie durch einen Schleier an mein Ohr. Eigentlich ist es eher ein verzweifelter Schrei.

"Alles wird gut", wiederholt die Krankenschwester leise und noch immer bin ich mir nicht sicher, ob sie das auch wirklich so meint. Ich erhasche einen Blick auf Henrys Gesicht und meine fast, eine Zustimmung darin zu lesen, aber sicher bin ich mir nicht. Seine Augen, seine schönen braunen Augen sind das Letzte, was ich wahrnehme.

Dann wird alles schwarz und ich falle in eine bodenlose Dunkelheit.

150 Seiten *on hold*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt