Kapitel 2

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Vollkommen durchgefroren und klatschnass vom Schnee schließe ich die Haustür auf. Ich hänge meine Jacke an den Haken und stelle fest, dass ich am ganzen Körper zitterte. Ob vor Kälte oder vor Verzweiflung oder Schock weiß ich nicht.

Kaum ist die Tür ins Schloss gefallen, kommt auch schon meine Mutter aus dem Wohnzimmer geschossen. Sie merkt sofort, dass etwas nicht stimmt. Wortlos nimmt sie mich in den Arm, drückt mich an sich, wie früher, wenn ich mit offenen Schürfwunden heim gekommen bin.

Es ist ihr egal, dass ich von Kopf bis Fuß durchnässt bin, es ist ihr egal, dass ich viel zu spät gekommen bin, das einzige was für sie zählt bin ich.

Dieser Gedanke ist so berührend, tröstlich und schrecklich zugleich. Schrecklich deswegen, weil sie mich spätestens in einem halben Jahr nicht mehr so umarmen kann, weil ich dann nicht mehr da bin.

Davon muss ich schon wieder weinen, all die mühsam aufgestauten Tränen purzeln geradezu aus meinen Augen und egal wie sehr ich mich bemühe, ich schaffe es nicht, sie zurückzuhalten.

Meine Mom, meine liebevolle, fürsorgliche Mom sagt gar nichts, sondern wiegt mich nur hin und her und streicht mir über die Haare. Es tut so gut, dass sie da ist. Es tut so gut, dass sie mich sanft am Ellbogen fasst und sagt: "Komm. Ich mach dir eine heiße Schokolade."

Mit einer kuscheligen Decke bugsiert sie mich in unsere eher kleine Küche und setzt mich auf einen Stuhl. Als sie gekonnt die Milch aufwärmt, herrscht vollkommene Stille. Nur die tickende Uhr durchbricht sie ab und zu.

"Ich weiß Bescheid", sagt meine Mutter plötzlich. "Dein Arzt hat vorhin angerufen."

Sie hat es gewusst. Die ganze Zeit hat sie es gewusst und nichts gesagt.

"Ach Mama", seufze ich und wünschte ich könnte mehr Worte finden.

Aber das Einzige, was ich herausbringe ist:

"Es tut mir so leid."

Derselbe, abgedroschene Satz, den Dr. Lechner auch benutzt hat, mit dem Unterschied, dass ich gleichzeitig versuche, ein Schluchzen zu unterdrücken. Überrascht stelle ich fest, dass es meiner Mom genauso geht. Sie weint eigentlich so gut wie nie.

"Schätzchen, da kannst du doch nichts dafür", krächzt sie. Ihre Schultern beben heftig und sie wischt sich immer wieder mit dem Handrücken über die Augen und ich muss mehrmals schlucken. Das letzte Mal, als sie mich Schätzchen genannt hat, da war ich acht.

Dann fallen wir uns in die Arme und klammern uns verzweifelt aneinander fest.

So stehen wir eine ganze Weile da, wie zwei Ertrinkende, die nur einander haben, um sich irgendwie über Wasser zu halten.

"Ich glaube, die Milch ist angebrannt", murmelt meine Mom an meiner Schulter. Jetzt bemerke ich auch den leicht verkokelten Geruch über dem Herd. Leichte Rauchfäden steigen aus dem Topf hervor, aber weder meine Mutter, noch ich kümmern uns darum.

Es gibt jetzt einfach Wichtigeres.

150 Seiten *on hold*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt