Die letzte spooky Nacht ist angebrochen. Heute bekommt ihr nochmal eine tolle Kurzgeschichte von TheBlindIo. Seid doch so lieb und kommentiert nochmal fleißig, lasst außerdem einen Vote da und schaut auf jeden Fall auf dem Profil on TheBlindlo vorbei.
Eine Nacht in den Bergen ist wie ein Sturz in die Tiefsee. Hier zeigt die Natur den Menschen, dass sie trotz der Betonwege und des Straßenbahnratterns der Städte noch immer Tiere sind, furchtsame Wesen, die sich in mondlosen Nächten hinter einer Holzwand um das Feuer kauern und dort ihre Rettung suchen vor den wilden Geistern, die draußen herrschen.
Ein Betonweg, das wäre was, denke ich. Diese alten Knie sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Fast rutsche ich wieder aus auf den glitschigen Steinen, die grob verteilt den Weg bergab bilden, kann mich gerade noch auf den Regenschirm stützen. Weiter vorne sehe ich bereits ein sanftes Licht, eine Kerze im Fenster einer Berghütte aus groben Holzbohlen, allein in der Wildnis.
Ein weiteres Licht geht an, als ich die Tür hinter mir schließe, die Dunkelheit aussperre. Nach dem langen Weg lässt die Wärme hier drinnen meine Hände kribbeln. Graham setzt sich stöhnend im Bett auf. „Elsbeth", sagt er, „wo warst du?"
„Nur beim Toilettenhäuschen", antworte ich leise.
„Was?", sagt Graham. „Nuschel doch mal nicht so!"
„Beim Toilettenhäuschen", sage ich etwas lauter und erröte.
„Und das muss mitten in der Nacht sein? Du warst erst heute Abend dort, und zwar für Ewigkeiten. Wir sind gerade erst angekommen."
„Tut mir leid, dass ich dich gestört habe, Graham, aber du weißt doch, meine Verdauung –"
„Komm einfach wieder ins Bett."
Mit brennendem Gesicht krabbele ich mühsam unter die Decke. Fünfzig Jahre, aber an seine Launen habe ich mich noch immer nicht gewöhnt.
*
Es regnet wieder, und unsere Gruppe muss aussehen wie eine römische Legion, als wir mit unseren Regenschirmen gepanzert bergauf kriechen. Keiner unter sechzig. Glitschige Steine, grob verteilt, erfordern unsere Aufmerksamkeit. Du solltest mehr Sport machen, Elsbeth, sonst kriegst du Probleme im Alter, meinte Graham immer. Ich meine sein „Ich hab es dir doch gesagt" in seiner Haltung sehen zu können, seinem geraden, aufrechten Gang. Er hatte noch nie ernste Gesundheitsprobleme, und auch jetzt ist er der einzige, der es sich erlauben kann, nicht für einen Blick nach unten innezuhalten.
Der Helgafell ist wunderschön. Unser isländischer Wanderführer spricht Englisch mit einem angenehmen Akzent, zeigt auf die schneeweiße Kirche hier und auf den verwitterten Grabstein dort.
Eine Guðrun Osvífursdottir ließ die Kirche einst bauen, erzählt er, auf einem Berg, in den die Seelen der Verstorbenen nach ihrem Tod einziehen, so glaubte man. Sie lebte dort als Einsiedlerin bis zu ihrem Tod, zum Glauben gekommen nach den dramatisch-tragischen Romanzen ihrer Jugend.
Als junges Mädchen hatte ich immer davon geträumt, an einem Ort wie diesem hier zu heiraten, einfach in der freien Natur – ich hatte mir vorgestellt, wie eine leichte Brise meinen Schleier und mein Kleid hinter mir aufbauschen würde und wie ich den freien blauen Himmel sehen könnte, während ich das Ja-Wort gab. Er wäre wie ein Symbol gewesen, ein Symbol für all die Möglichkeiten und das Glück, das danach folgen würde. Als ich Jahre später Graham davon erzählte, hatte er nur die Augen verdreht; der Wind würde mir wahrscheinlich nur die Frisur zerstören und auf den Fotos würde ich dann aussehen wie eine Vogelscheuche, hatte er gesagt und gelacht. Und wo könne man sowas überhaupt machen? Am Ende heirateten wir in der Kirche, in der auch seine Eltern geheiratet hatten. Mein Schleier und mein Kleid bauschten sich trotzdem hinter mir auf, als wir den Gang entlang schritten, aber vom Himmel sah ich durch die bemalten Scheiben nicht viel, und statt eines sanften Windzugs spürte ich nichts als die stickige, vom Atem der vielen Anwesenden angefeuchtete Luft.
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Spooky Week | 2020 | PREVIEW
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