1. Kapitel

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Make no mistake, I live in a prison. That I built myself, it is my religion. 

~The Chainsmokers - Sickboy

Ich will nicht umziehen und er weiß es. Er ist mein Vater, Richard Young. Außerhalb von zu Hause der arme Mann, der vor sieben Jahren seine Frau verloren hat. Bei mir zu Hause: Mein persönlicher Quäler. Seit diesen sieben Jahren macht er mir das Leben zur Hölle. Jeden einzelnen Tag zeigt er mir, dass mom nicht mehr da ist und er mich hasst. Weil er mich für ihren Tod verantwortlich macht. Nicht umsonst gehe ich selbst bei 30°C im Schatten nur mit Jeans und Pulli aus dem Haus. Wenn es besonders schlimm ist sogar mit Mütze. Aber das kam zum Glück erst ein einziges Mal vor. 

Ich schäme mich deswegen. Aber sagen will ich es niemanden, denn meine Angst vor meinem Vater ist viel zu groß. Er kann unberechenbar werden, wenn er wirklich wütend ist. Deshalb auch die Mütze im Hochsommer.

Gerade betrete ich mit einem Rollkragenpulli bekleidet meine zukünftige Schule. Sie ist hochmodern im Gegensatz zu meiner alten Highschool. Ich fühle mich fehl am Platz. Die fragenden Blicke, die mir die vorbeigehenden Schüler zuwerfen, helfen auch nicht viel dabei, um mich wohler zu fühlen. Vielleicht liegt es daran, dass alle die kurzen Röcke ihrer Schuluniform tragen und ich mit Winterkleidung auf dem Schulflur stehe. Nicht zu vergessen meine dünne, graue Stoffmütze. 

Wie gesagt, mein Vater war letztens sehr wütend gewesen. Unter den verwirrten Blicken, die mich bis zum Sekretariat begleiten, gehe ich durch meine neue Schule. Ein kleiner Pluspunkt für sie ist jedoch, dass ich mit dem Plan in meiner Hand auf anhieb mein Ziel finde. Leicht nervös klopfe ich gegen die hellbraune Tür vor mir und trete ein. Eine nett aussehende Sekretariatsdame sitzt hinter einem Tresen. 

"Guten Tag. Sind Sie Avery Young?", fragt sie und lächelt mich warm an. Ich nicke zur Bestätigung. "Gut, dann nehmen Sie bitte einen Moment Platz. Mrs Clark, die Direktorin, empfängt Sie gleich." Die Frau widmet sich wieder ihren Unterlagen auf dem Schreibtisch. Ich gehe zur anderen Seite des Raumes und lasse mich auf einem Stuhl nieder. Mein Blick schweift umher und bleibt bei den zahlreichen teuer aussehenden Möbeln hängen. Vielleicht ist es ja normal für Chicago viel Geld in die Schulen fließen zu lassen. Eines weiß ich aber: In Oregon, dort wo ich herkomme, war das ganz bestimmt nicht der Fall. Ich kann fast die scheppernden Spinde und knallenden Türen hören, wenn ich nur daran denke.

Mit gemischten Gefühlen denke ich an meine alte Schule zurück. Einerseits war es dort schön gewesen, weil sich niemand für mich interessiert hatte und ich für mich alleine bleiben konnte. Andererseits sind öffentliche Plätze immer der Horror für mich, da ich Menschen grundsätzlich nicht mehr vertraue. Dieses Gefühl hat mein Vater gänzlich in mir ausgelöscht. Ich misstraue vor allem Jungen und Männern. Als mom noch lebte, war er ein anständiger dad gewesen. Zwar keiner, der mich auf Händen trug, aber einer, der aufmerksam und liebevoll war. Aber kaum starb meine Mutter veränderte sich alles. Zuerst ließ dad seinen Frust an sich aus. Er betrank sich bis ins Koma und setze wochenlang keinen Fuß mehr vor das Haus. Dann hörte er jedoch mit dem Trinken auf und zurück blieb eine unbändige Wut auf alles und jeden. Eine Wut, die er an mir ausließ. Bei dieser Erinnerung fahre ich mit meinen Fingern unter den Rollkragen an meinen Hals und taste die geschwollenen Stellen ab. In diesem Moment geht neben mir eine Tür auf und eine Frau Mitte 40 bittet mich mit einer kleinen Handbewegung in einen Raum hinein. 

Ich nehme meine Hand von meinem Hals und ziehe den Kragen so weit hoch wie möglich. Auf keinen Fall darf die Schulleiterin nur einen blau-grünen Fleck Haut sehen. Ich stehe auf, fahre mir einmal prüfend durch die Haare und gehe dann an der Frau vorbei. Ich erwarte hinter einem großen Schreibtisch eine strenge, alte Frau zu sehen aber der Sessel ist frei. Stattdessen geht die ungefähr 45 Jahre alte Frau um den massiven Holzschreibtisch herum und setzt sich auf den freien Sessel. Sie hätte ich mir nicht als Direktorin vorgestellt. Sie sieht viel zu freundlich aus mit ihrem Dauerlächeln im Gesicht. Und auch als sie anfängt zu sprechen, bleibt es aufrecht.

(Not) Better aloneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt