Diesen Text hat wellenmaedchen beigesteuert.
Zuhause
Der Asphalt glitzert orange im Licht der Straßenlaternen, von denen nur jede zweite leuchtet. Es sieht fast so aus, als würden Millionen winziger Bernsteine auf dem nassen Boden liegen, die nur sie zu Gesicht bekommt.
Das Radio gibt den letzten rauschenden Ton von Last Christmas von sich und wird dann vom mangelnden Empfang erstickt. Es war ungewohnt, deutsche Stimmen aus den Lautsprechern zu hören, doch es war besser als die Stille, die wie ein Verstärker ihrer Nervosität wirkte. Vor einer halben Stunde hat es aufgehört, zu regnen, da ist sie gerade von der Autobahn abgefahren. Von Schnee ist keine Spur zu sehen, das Thermometer zeigt zwei Grad über null.
Sie steuert das Auto langsam die kleine Dorfhauptstraße entlang und versucht, zu realisieren, dass sie jetzt wieder hier ist.
Es trifft Sophia härter als sie es erwartet hat, als sie an der Kreuzung steht und die alte, rostige Schaukel, die jetzt noch viel älter und rostiger ist, im Wind sanft hin und her schwingen sieht. Beinahe hört sie ihr eigenes Lachen, das nicht mehr ihr Lachen ist. Jemand hat eine Lichterkette um das Geländer des kleinen Karussells gewickelt; Sophia fragt sich, ob sie denjenigen erkennen würde.
Es waren die Worte ihres Bruders, die sie dazu bewegt haben, wieder zurückzukommen, an diesem Weihnachten. Es ist anders geworden, hat er geschrieben, und sie hat es ihm geglaubt und sie weiß nicht, ob es richtig war. Ja, wenn sie jetzt diese Straße entlang fährt, wirkt es wie ein ganz normales Dorf im zu warmen deutschen Winter, doch sie könnte nicht leugnen, dass jeder Stein sie an etwas erinnert, an Gutes und an Schlechtes. Die Häuser scheinen
zusammenzurücken, die Details zu verwischen, die Bewohner zu verbergen und die Stimmung nicht zu offenbaren, die hier herrscht. Sind es glückliche Menschen hinter den Fenstern? Sind es dieselben wie damals? Sind sie anders geworden? Ginge es nur um die Vergangenheit, wäre Sophia wohl nicht ins Auto gestiegen, aber es geht um Chancen, die sie nicht verwehren darf und es geht um die Zukunft.Die Lichterketten, leuchtenden Rentiere und blinkenden Eiszapfen in den Vorgärten nehmen dem kleinen Ort nicht die Einsamkeit, die an diesem Dezemberabend herrscht. Sie ist wie eine Wand, die keinen Fremden hineinlässt, Sophia nicht hineinlässt. Sie erschrickt vor ihren eigenen Gedanken und davor, dass es die Wahrheit ist. Eine Fremde. Der kleine Ort in Thüringen war ihre Heimat bis sie achtzehn war, aber sie weiß nicht mehr, ob es sich wirklich wie Zuhause anfühlte. Sie denkt an die helle Wohnung in Stockholm, neunzig Quadratmeter, wenig Möbel, glatter Parkettboden, Wände in satten Farben, und plötzlich, als wäre sie mit dieser Autofahrt völlig aus ihrem Leben katapultiert worden, fragt sie sich, ob das das Zuhause ist, was sie sich immer gewünscht hat. Die letzten Jahre hat sie aufgehört darüber nachzudenken, sie war wie ein Rad, das mit dem Leben mit rollt, von dem sie nicht weiß, wie viel sie davon selbst bestimmt hat; der Ruhm, der Erfolg waren ihre Heimat, aber sie sind kein Haus, sie sind vergänglich.
Die Zeit ist hier anders. Sophia fühlt sich wieder wie siebzehn, gefangen in den Mauern des Jeder-kennt-Jeden, blind für die Möglichkeiten, die sie hat, mit einem Fuß noch gekettet an die Liebe ihrer Familie, mit dem anderen schon gezogen von der großen, weiten Welt. Sie ist daraus ausgebrochen, aus diesem gläsernen Gefängnis, und ja, vielleicht hat sie es damit kaputt gemacht, vielleicht aber auch erst, als sie nicht wieder zurückkam. Nach der Europareise, die erst nur ein paar Tage an der Ostsee mit Freunden war, ist sie in Stockholm gestrandet, eine Stadt, wie für sie gemacht. Bunt, aber nicht überflutet von Reizen, und vor allem mit unzähligen Motiven und Menschen für die Position vor der Kameralinse. Sophia hat hart für den Platz an der Christer-Strömholm-Fotografieschule gearbeitet und es gab Rückschläge und die haben sie stark gemacht und es hat sich ausgezahlt. Sie ist die Frau, die schon Menschen wie Fyra Förläggare oder Alexander Nyborg fotografiert hat, die in Räumen ausstellt, die sogar Anders Petersen betreten hat, um sich ein Bild von den Werken seiner jungen Konkurrentin zu machen, die Frau, die letzte Woche ein Jobangebot der Vogue in New York abgelehnt hat, weil der Atlantik nicht die Ostsee ist und weil sie vielleicht ein bisschen bereut und weil es da einen Punkt in ihrem Leben gibt.
Ihr Herz beginnt laut zu schlagen, als sie sich dem Anwesen ihrer Familie nähert. Sie hat es lange nicht mehr so klopfen gehört, sie ist eine starke Person, die immer hundert Prozent gibt, eine Einzelgängerin, nur nicht ganz. Sie macht die Dinge mit dem Herzen, denn sie liebt, was sie tut. Es gibt kaum Anhaltspunkte in ihrem Leben, das manchmal ist wie der Schleudergang einer Waschmaschine, doch sie geht nicht mehr Freitagabends auf gehobene Cocktailpartys und sie legt die Kamera jeden Tag am späten Nachmittag ins Regal, um rechtzeitig zu Hause zu sein. Sophia wurde beigebracht, dass Schwäche bedeutet, zu scheitern, also möchte sie eine Göttin sein, nein, sie ist eine Göttin. Eine Göttin, die jetzt zweifelt, nicht nur daran, ob sie wirklich aus dem Auto aussteigen soll, sondern auch, ob ihr Leben das Richtige ist, oder ob sie nur in eine Rolle geschlüpft ist, deren Kostüm sie jetzt nach sechs Jahren wieder ablegt. Aber war es nicht andersherum, schließlich hatte sie Gründe, diesen Ort damals zu verlassen und kein Weihnachtsfest sollte an der Entscheidung rütteln können. In drei Tagen wird sie wieder in dieses Auto steigen und wird vielleicht denken, dass das Wiedersehen nicht so schlimm war, wie sie es sich vorgestellt hat, oder sie ist sogar glücklich, dass sie endlich den Mut hatte, zurückzukommen.Doch sie glaubt nicht an ihre eigenen Gedanken, denn sie sieht schon die Tränen ihrer Mutter, den kalten Blick ihres Bruders und die verbitterte Faust ihres Vaters. Aber am meisten hat sie Angst davor, dass dieser Besuch ihr Leben verändern wird und dass sie merkt, dass sie nicht so glücklich ist, wie sie denkt.
Mit einem Seufzen zieht sie die Handbremse an. Sie ist eine starke Frau, sie wird sich nicht von ihren Gefühlen überwältigen lassen und sie wird ihr Zuhause nicht verlieren.
Sie wirft noch einen Blick in den Rückspiegel und richtet Schal, Haare und Brille, dann steigt sie aus und geht zur hinteren Tür auf der anderen Seite des Wagens. Gwen ist eingeschlafen, als es dunkel wurde. Sophia schnallt die Dreijährige ab, hebt sie aus dem Kindersitz und wickelt sie zum Schutz gegen die Kälte in ihren Schal. Gwen kuschelt ihren kleinen Kopf an Sophias Schultern und klammert ihre Finger in ihren Pullover. Sie ist ihr Anhaltspunkt, der Rückschlag, der sie stark gemacht hat, ihr Grund, um nach Hause zu kommen, das Mädchen, für die sie eine Göttin ist, der Mensch, der ihr die Einsamkeit nimmt, und dem sie die Chance auf eine Familie nicht verwehren darf: ihre Tochter.Während ihre Füße sich den erleuchteten Fenstern nähern, wird ihr klar, dass sie ihr Zuhause nicht mehr suchen muss und dass es diese eine Liebe ist.
Bedingungslos.
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Bei Kakao und Keksen
RandomKaro mag Weihnachten ziemlich und ihr müsst alle darunter leiden. Ein hübscher kleiner Adventskalender für alle, die den Winter genauso lieben wie ich. Und mich. Mich liebt ihr auch. (Hoffe ich.)