Letzte Chance

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"Was?! Deine Schwester?", platzte es aus mir heraus und ich war so komplett fassungslos und überfordert mit diesem Geständnis, dass man meinen könnte, Tyron hätte mir soeben erklärt, dass Einhörner und Drachen friedlich zusammen auf dem Mars lebten. Genau so unglaubwürdig kam mir diese Tatsache gerade vor.

Wie konnten die beiden Geschwister sein? Sie hassten sich abgrundtief.
Doch wie ich eben erfahren hatte, war Alexandra nicht schon immer ein Wentigos gewesen. Vor ihrem Tod war sie wie Tyron - ein Mensch. Vielleicht wechselte sie damals erst zur dunklen Seite, nachdem sie ihre Menschlichkeit und ihre Seele verloren hatte und von den Toten wiederauferstanden war. Was, wenn sie vor ihrer Verwandlung eine von den Guten war? Ich musste wissen, warum sie sich nun hassten. Ich musste einfach den Grund dafür erfahren. "Tyron, aber wieso hasst ihr euch?"

"Ist doch egal.", lenkte er ab. Man konnte ihm deutlich ansehen, wie unangenehm ihm das war. Ich vermutete, dass dieser Hass auf seiner Schuld basierte, sonst hätte er mir den Grund sicherlich genannt. "Ist es nicht.", widersprach ich und sah ihm dabei tief in die Augen. "Los Tyron. Erzähl was du getan hast.", forderte ihn nun auch Alexandra auf. "Nein!", rief er diesmal mit mehr Nachdruck in der Stimme. "Das geht dich nichts an.", fügte er nun an mich gewandt hinzu. "Doch, ich denke das tut es. Immerhin wohnen wir beide in einem Zimmer, wenn wir nicht gerade in Sombra gefangen sind.", erklärte ich ernst und hob eine Augenbraue. Tyron presste die Zähne zusammen, ich konnte den Schmerz in seinen dunklen Augen erkennen und wie er nervös mit einem Bein wippte. Dann fing er auch noch an, auf seiner Unterlippe zu kauen und schluckte öfter, als es nötig gewesen wäre. "Tyron, komm mal wieder runter! Du bist völlig am Ende mit den Nerven, das macht mich noch ganz verrückt.", unterbrach ich ihn und er wandte schnell den Blick von mir ab und traf daraufhin ungewollt den von Alexandra, die ihn noch immer ansah, als würde sie sich gleich auf ihn stürzen wollen. Sie funkelte ihn böse an und bedachte ihn mit hasserfüllten Blicken, die ich bis jetzt immer noch nicht nachvollziehen konnte. Warum wollte mich denn hier niemand aufklären? Allein würde ich es bestimmt nicht herausfinden, also was sollte dieses ganze Drama?

"Okay, Amara. Ich werde es dir erklären, versprochen, aber nicht hier und jetzt. Schon gar nicht vor meiner Schwester, bitte. Ich will ihr dieses furchtbare Szenario nicht nochmal antun. Das kann ich ihr nicht zumuten. Verstehst du?", meinte er mit sanfter, aber dennoch bedrückter Stimme. "Du willst es mir nicht antun! Spinnst du?! Das kann nicht dein Ernst sein. Jetzt tust du so, als wärst du der liebe Bruder, der nur seine Schwester beschützen will. Dabei hast du sie doch alle getötet. Es war allein deine Schuld! Und das weißt du auch.", sie begann den Satz voller Wut und schrie ihn an, doch er endete mit weinerlichem Unterton und einer tiefen Trauer, die sich in ihrem Gesicht abzeichnete. Wieder sammelten sich Tränen in ihren Augen und abermals schluchzte sie verzweifelt. "Ja, ich weiß...und glaub mir Alex, ich hasse mich dafür und es vergeht kein Tag, an dem ich es nicht bereue, aber du weißt auch, dass es sicher keine Absicht war und, dass es auch nicht allein meine Schuld war. Es ist nämlich genauso auch Dark, der daran beteiligt war und für den du jetzt arbeitest. Ihm kannst du verzeihen, aber deinem eigenen Bruder nicht?!" "Natürlich nicht. Gerade weil du mein Bruder bist, ist deine Tat noch viel schlimmer. Du kommst in die Hölle und zwar nicht, weil ich meine Rache will, sondern weil du es verdient hast.", unterbrach sie ihn. "Mag sein, dass ich in die Hölle komme, aber du auch. Tu bitte nicht so, als wenn du das unschuldige Lämmchen wärst oder sogar noch das Opfer, denn du hast mich verstoßen...und damals war ich noch so jung und hatte quasi keine Chance zu überleben, doch du hättest mich einfach sterben lassen!", sagte nun auch er mit wässrigen Augen. "Tyron, können wir jetzt bitte gehen?", fragte ich auffordernd und zog an seinem Arm. Alexandra lachte daraufhin bösartig und erklärte: "Ihr geht nirgendwo hin, ihr seid jetzt meine Gefangenen. Schließlich bin ich diejenige mit der Pistole." Ihre Worte sickerten langsam durch mein Gehirn, als hätte es unzählige Löcher, bis ich dann endlich realisierte, was sie gerade gesagt hatte. Gefangenen.

Nein. Ich wollte nicht schon wieder hier in Sombra feststecken, ich wollte doch einfach nur hier weg. Warum war das so schwer zu verstehen?! Tyron schaute unterdessen gequält den Boden an, in der Hoffnung, wir würden sein trauriges Gesicht nicht sehen, das verriet, dass er den Kampf schon längst aufgegeben hatte. Dann fasste er neuen Mut und sprach wieder seine Schwester an: "Okay, von mir aus kannst du mich haben. Ich werde mich dir nicht widersetzen. Ich werde mich nicht gegen dich wehren und du kannst alles mit mir machen, was du willst. Ich werde einfach so ohne Widerstand mit dir mitkommen und werde nicht versuchen, wegzulaufen. Aber nur unter einer Bedingung - Amara darf gehen, verstanden? Sie wird diesen Raum lebendig und unverletzt verlassen und ihr hört auf, sie zu jagen, weil ich weiß, dass ihr es nur auf mich abgesehen habt. Also könnt ihr sie jetzt in Ruhe lassen, denn ich ergebe mich."

"Nein!", rief ich entsetzt dazwischen und trat ihm auf den Fuß, um irgendwie an seinen gesunden Menschenverstand zu appellieren, der hoffentlich noch vorhanden war.
"Es ist deine einzige Chance. Ich bin schon verloren. Für mich gibt es keine Hoffnung mehr, aber für dich! Lebe einfach dein Leben weiter und vergiss mich. Du hast noch so viel vor dir, du bist längst nicht bereit zum Sterben und erst recht nicht für mich. Ich will nicht, dass sich jemand für mich opfert.", versuchte er mir zu erklären, doch ich dachte nicht mal dran, seine Entscheidung hinzunehmen. "Das möchte ich doch auch nicht. Denkst du, ich kann ohne ein schlechtes Gewissen weiterleben, wenn ich genau weiß, dass ich dich hier zurückgelassen habe? Nein, könnte ich nicht."

"Du verstehst das nicht. Wir haben doch gar keine Wahl! Entweder sie tötet dich und nimmt mich dann gefangen oder wir verhandeln, sodass keiner sterben muss, du darfst gehen und ich werde trotzdem gefangen genommen. Das sind unsere zwei Möglichkeiten - und um ehrlich zu sein, ziehe ich die zweite vor.", gab er mir zu verstehen, doch stattdessen nahm er mir mit diesen Worten nur meine letzte Hoffnung. Wie in Zeitlupe erkannte ich, dass er so oder so hierbleiben müsste und diese schreckliche Erkenntnis zerriss mir das Herz in unzählige Stücke. Es zerbrach einfach so in tausend Teile. Vor meinem geistigen Auge konnte ich die zersplitterten Scherben am Boden sehen und ich realisierte langsam, wie eine Träne meine Wange hinunterrollte, immer weiter und schließlich zu Boden fiel, wo sie auf dem harten Beton aufkam und zerfloss, bis nur noch eine winzige Pfütze von ihr übrig war. Genau so fühlte ich mich gerade - am Boden zerstört und dem Ende so verdammt nah.

"Und wenn wir es anders machen? Ich bleibe hier und er geht.", schlug ich vor, doch Tyron schüttelte sofort vehement den Kopf: "Checkst du es denn gar nicht?! Es geht nicht um dich! Das ist etwas Persönliches zwischen Alex und mir. Du wurdest da leider nur mit reingezogen.", redete er erneut auf mich ein, doch seine Worte schienen alle an mir abzuprallen. Nicht weil ich es nicht verstand, sondern weil ich die Wahrheit nicht hören wollte, weil ich sie einfach nicht ertragen konnte.
Verzweiflung machte sich in mir breit und ich versuchte einen Ausweg zu finden, eine Lösung, die auch Tyron retten konnte - doch vielleicht existierte so eine Lösung gar nicht und war nur eine Illusion, die in mir falsche Hoffnung aussähte, welche wie Unkraut in meinem Hirn zu wuchern begann.

"Du musst jetzt einfach das Richtige für dich selbst tun, Amara. Ich hab mein Leben verspielt und nur Scheiße gebaut, aber du kannst noch so viel Gutes tun. Mach die Welt zu einem besseren Ort. Lass mich hier zurück. Weißt du noch? Wie bei unserem Autounfall. Da hast du mich auch zurückgelassen und es war die richtige Entscheidung. Manchmal kann man nicht ewig an einem Menschen festhalten. Manchmal muss man einfach loslassen und sich selbst retten, wenn der andere schon längst verloren ist. Diese Einsicht ist zwar schwer, aber das einzig Vernünftige, was du tun kannst. Irgendwann werden wir uns wiedersehen.", versuchte er mich zu beruhigen, doch mein Herz schlug immer schneller und schneller, denn was er da eben gesagt hatte, klang für mich nicht logisch oder richtig, sondern eher wie ein Abschied für immer. Es klang viel mehr danach, dass er dem Tod bereits ins Auge sah und wieder einmal war ich dagegen völlig machtlos und noch dazu, war ich auch noch Schuld daran. Denn ich bin wie ein Feigling weggelaufen, als er den kleinen Jungen getötet hatte und diesen Fehler würde ich nie wieder machen. Schon viel zu oft bin ich einfach vor meinen größten Ängsten geflohen, doch das hatte nun Ein für Allemal ein Ende. Wenn es sein müsste, würde ich für ihn kämpfen, denn gerade waren mir alle Mittel recht, um Tyron zu retten - und die Konsequenzen, die daraus entstehen würden, waren mir völlig egal. Denn wenn ich bei diesem Kampf selbst sterben würde, wüsste ich zumindest, dass ich alles für ihn getan hatte, was möglich war und noch viel wichtiger - mein Tod würde einen Sinn haben, denn ich erhoffte mir, dass ich Alexandra lange genug aufhalten würde, damit er fliehen konnte.

Mit diesem Gedanken, fester Entschlossenheit, aber auch jeder Menge Angst und Panik in mir rannte ich los...

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 30, 2021 ⏰

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Wentigos - Wächter der Schatten *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt